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       # taz.de -- Einstellungen zu Long Covid: „Polemiken helfen da nicht“
       
       > Alles Faulpelze und Simulanten? Georg Schomerus forscht zur
       > Stigmatisierung von Menschen, die an den Spätfolgen einer
       > Corona-Erkrankung leiden.
       
   IMG Bild: Aktivisten der Initiative „NichtGenesen“ protestieren am ersten Internationalen Long Covid Awareness Day im März 2023
       
       taz: Herr Schomerus, werden Long-Covid-Erkrankte in unserer Gesellschaft
       stigmatisiert? 
       
       Georg Schomerus: Eindeutig. Wir müssen nur zuhören, was Betroffene
       berichten. Sie machen so viele extrem entwertende Erfahrungen, die sich mit
       dem Konzept der Stigmatisierung treffend beschreiben lassen.
       
       Wie äußert sich das? 
       
       Stigmatisierung entsteht, wenn eine Gruppe von Menschen mit einem Etikett
       versehen und daraufhin mit Stereotypen in Verbindung gebracht wird. Die
       Reaktion auf ein solches Zerrbild ist Ausgrenzung, ein „wir gegen die“.
       Viele Long-Covid-Betroffene berichten genau das: Sie werden als „die
       Anderen“ abgewertet. Das beginnt oft schon in der Arztpraxis.
       
       Woran machen Sie das fest? 
       
       [1][Long-Covid-Erkrankte stoßen bei Ärztinnen und Ärzten oft auf
       Unverständnis]. Ihre körperlichen Leiden werden psychologisiert, oft wird
       sogar eine psychische Erkrankung diagnostiziert. [2][Menschen mit ME/CFS]
       [Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Die postvirale
       Multisystemerkrankung gilt auch als schwerste Ausprägung von Long Covid;
       Anm. d. Red.] kennen das schon seit Jahrzehnten. Mehr oder weniger explizit
       wird ihnen auch unterstellt, dass sie lieber Sozialleistungen bekommen als
       gesund werden möchten. Das sind Zuschreibungen, die den Menschen selbst
       völlig fremd sind: Es sind häufig sehr leistungsbereite Menschen – aber
       jetzt, da sie krank sind, unterstellt man ihnen plötzlich fehlenden Willen.
       
       Ist das ein gesamtgesellschaftliches Phänomen? 
       
       Das glaube ich eigentlich nicht. Aber es gibt bisher noch keine
       Untersuchungen darüber, wie die Allgemeinbevölkerung über Long Covid denkt.
       Was wir bereits sehen können, ist, dass es in den Medien neben einigen
       ausgewogenen auch viele sehr einseitige Berichte über postvirale
       Erkrankungen gibt. Hier setzt sich die Stigmatisierung fort, und eine
       ernste Erkrankung wird zum Gegenstand einer weiteren Polarisierung.
       
       Haben Sie dafür Beispiele? 
       
       Vor einiger Zeit gab es einen [3][polemischen Kommentar in der Süddeutschen
       Zeitung]. Der Autor schrieb mit triefender Ironie darüber, wie viel Energie
       die „chronisch Erschöpften“ doch aufbringen würden, um als „lautstarke
       Aktivisten“ in den sozialen Medien aggressiv für eine bessere Versorgung zu
       streiten. Das ist nicht nur eine hemmungslose Verallgemeinerung – hier
       profiliert sich ein Journalist auf Kosten einer Gruppe von Kranken. Er
       wirft Menschen, die in unserem Versorgungssystem vielfältig schlechte
       Erfahrungen machen, vor, dass sie sich wehren und dabei auch mal gereizt
       sind. Das finde ich offen gestanden infam: Erst behandeln wir die Menschen
       schlecht, dann kritisieren wir sie dafür, dass sie sich über die schlechte
       Behandlung beschweren. Dieser Kommentar sticht besonders hervor, aber er
       steht für eine ganze Strömung. Auch Ärzte haben in Interviews versucht,
       Long Covid in die Ecke eines bloßen Medienereignisses zu stellen, als seien
       postvirale Beschwerden nicht echt. Das reicht bis zu der Behauptung: Würde
       man nicht mehr darüber berichten, gäbe es bald auch viel weniger Erkrankte.
       
       Nun sind die Krankheitsmechanismen bei Long Covid tatsächlich noch nicht
       geklärt. Ließen sich solche Beiträge nicht auch als Ausdruck des
       wissenschaftlichen Streits einstufen? 
       
       Wenn sich Ärztinnen oder Ärzte über Long Covid äußern, sollten sie
       einerseits auf dem Stand der Forschung sein und andererseits das
       Bewusstsein haben, dass wir vieles eben noch nicht wissen. Die Beschwerden
       als rein psychisch bedingt einzustufen, nur weil übliche Labortests keine
       Befunde liefern, ist einfach unsachlich – dafür gibt es viel zu viele
       gegenteilige Erkenntnisse. Wir haben in der Wissenschaft praktisch einen
       Konsens, dass Long Covid keine psychische Erkrankung ist. Wer sich darüber
       einfach hinwegsetzt, der überschreitet meiner Meinung nach die Grenze zur
       Stigmatisierung.
       
       Was ist die Motivation dahinter? 
       
       Das frage ich mich auch. Eigentlich liegt es im Interesse von uns Ärzten,
       diesem neuen Krankheitsbild auf die Spur zu kommen und es nicht vorschnell
       in die „Psycho-Schublade“ zu packen. Vielleicht ist es ein Problem, dass
       unsere Medizin so stark in Fachrichtungen aufgegliedert ist. Ein Syndrom,
       das sich hier nicht einfach einsortieren lässt, kommt deshalb wohl bei
       keiner Disziplin so richtig an. Gängige psychosomatische Konzepte passen
       hier nicht gut, weil sie eben von einer vornehmlich psychischen Ursache der
       Beschwerden ausgehen. Und wenn Betroffene dem widersprechen, wird ihnen das
       als Beleg für ihre Uneinsichtigkeit vorgehalten. Auch wenn wir Beschwerden
       noch nicht erklären können, ist es im Zweifelsfall doch angemessen, den
       Patienten einfach zu glauben, die gerade ihre Erfahrungen mit dieser neuen
       Erkrankung machen müssen.
       
       Welche Auswirkungen hat die Stigmatisierung von Long-Covid-Erkrankten? 
       
       Im Ergebnis erhalten viele Betroffene keine angemessene Beratung und nicht
       die bestmögliche Therapie. Ich sehe deshalb auch die Gefahr, dass sich
       Menschen von der Medizin abwenden und auf alternative Heiler ausweichen.
       Die vermitteln zwar den Eindruck, sie ernst zu nehmen, therapeutisch haben
       sie aber nichts anzubieten. Stigmatisierung geht auch von Ämtern aus, wenn
       die sich nicht ausreichend mit der Krankheit befasst haben. Wir müssen
       davon ausgehen, dass Long-Covid-Erkrankten Leistungen vorenthalten werden,
       weil man ihnen ihre Beschwerden nicht glaubt. Auch am Arbeitsplatz treffen
       Betroffene auf Unverständnis. Es bräuchte zum Beispiel dringend
       Handreichungen für Arbeitgeber, wie sie Menschen mit Long Covid
       wiedereingliedern können, ohne sie zu überfordern.
       
       Politisch wird ebenfalls über Long Covid gestritten, etwa über die richtige
       Höhe von Geldern für die Forschung und Therapie. Spielen Stigmata auch in
       dieser Debatte eine Rolle? 
       
       Die Gefahr besteht. Long Covid ist eine häufige und zugleich neue
       Erkrankung, es besteht also die große Chance, dass wir noch vieles
       herausfinden, was den Menschen helfen kann. Die Forschung zu fördern
       erscheint mir naheliegend und dringend notwendig. Polemiken helfen da
       nicht.
       
       Was lässt sich der Stigmatisierung entgegensetzen? 
       
       Klassischerweise gibt es drei Strategien: Protest, Edukation und Kontakt.
       Von psychischen Krankheiten weiß man, dass Kontakt am besten funktioniert:
       Wer Betroffene kennenlernt, hinterfragt plötzlich seine Vorstellungen von
       einer Erkrankung. Bei Long Covid sind wahrscheinlich alle drei Strategien
       nötig. Medien sollten genau hinhören, was Menschen mit dieser Erkrankung
       erleben. Wir Mediziner müssen darüber aufklären, dass sich zum Beispiel
       ihre Form der Erschöpfung deutlich von einer landläufigen Erschöpfung
       unterscheidet. Und dass es durchaus kognitive Tests und einfache
       Untersuchungen etwa der Handkraft gibt, die spezifisch auf Long Covid
       hinweisen. Ohne den Protest der Menschen stünde es um die Anerkennung
       dieses Syndroms wahrscheinlich noch viel schlechter. Es gehört zu den
       zweischneidigen Erlebnissen, dass das Protestieren von manchen dann wieder
       gegen die Menschen verwendet wird, nach dem Motto: So erschöpft können die
       ja nicht sein.
       
       3 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
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   DIR [3] https://www.sueddeutsche.de/meinung/medizin-corona-post-covid-forschung-karl-lauterbach-therapie-gesundheit-kommentar-1.6225765
       
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   DIR Martin Rücker
       
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