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       # taz.de -- Taika Waititi's „Next Goal Wins“: Mitleid mit den Weltherrschern
       
       > Witzgewitter: Der Regisseur Taika Waititi erzählt in seiner Komödie „Next
       > Goal Wins“ ein weniger geläufiges Kapitel der Fußballgeschichte
       > Polynesiens.
       
   IMG Bild: Vorm Training wird in „Next Goal Wins“ erstmal aufgewärmt
       
       Eigentlich ist es das klassische Sportlerdrama: Die
       Fußballnationalmannschaft von Amerikanisch-Samoa bestand seit jeher aus
       einem Haufen unsportlicher Loser. Beim Qualifikationsspiel für die
       Weltmeisterschaft 2002 gegen Australien fuhren die Hobbysportler des
       klitzekleinen, mit Vulkanen gespickten US-Territoriums (rund 50.000
       Bewohner:innen) eine fußballhistorische Niederlage von 31:0 ein.
       
       Man kann sich das Drama noch immer im Internet angucken: Das Tor von
       Amerikanisch-Samoa bleibt genau sieben Minuten lang unberührt, danach
       dreschen die Australier ihre Bälle mit schonungsloser Regelmäßigkeit drauf.
       
       Verzweifelt stellte Amerikanisch-Samoa ein paar Jahre später einen
       professionellen Coach ein. Von ihm und seinen ungewöhnlichen Methoden, die
       dazu führten, dass das „American Samoa men’s national football team“ 2011
       immerhin eins von vier Qualifikationsspielen gewann (der erste Sieg der
       Mannschaft überhaupt), erzählte 2014 der Dokumentarfilm „Next Goal Wins –
       Das Spiel ihres Lebens“.
       
       Doch Regisseur Taika Waititi, dessen neuer, gleichnamiger Spielfilm die
       Doku als Vorlage nimmt, geht es um etwas anderes. Als er „Next Goal Wins“
       im Oktober beim Filmfestival von Toronto präsentierte, holte er vorab eine
       Gruppe indigener Kanadier:innen in traditioneller Tracht auf die Bühne,
       die den vollbesetzten Kinosaal segnete.
       
       ## Das charmante traditionell-religiöse Volk
       
       Danach sprach Waititi lange, und trotz seines gewohnt humorvollen Grundtons
       wütend über die Unterdrückung indigener Völker durch Kolonialmächte –
       [1][Waititis Vater gehörte zum Stamm der Te Whānau-ā-Apanui-Māori, seine
       Mutter war Jüdin, der Regisseur selbst nennt sich einen „polynesischen
       Juden“].
       
       Aus jeder Pore strömt, und in jedem der vielen gelungenen Gags des Films
       steckt diese berechtigte Wut – extrem unterhaltsam ist „Next Goal Wins“
       obendrein: Vom charmanten, gleichzeitig christlichen und
       traditionell-religiösen Volk der Amerikanisch-Samoaner:innen, ihren
       Ritualen und ihrem legendären Fußballdesaster erzählt zu Beginn ein
       lispelnder Priester, gespielt von Waititi.
       
       Im Teamchef Tavita (Oscar Kightley) reift darum die Idee, die Mannschaft
       aufzupolieren und zumindest zu einem einzigen Sieg zu führen. Zu diesem
       Zweck kontaktiert er den verbitterten, soeben von seinem letzten Job
       gefeuerten Fußballtrainer Thomas Rongen (Michael Fassbender schick
       blondiert), der nach einigen beruflichen Ausrastern, die seine Frau,
       Fußballfunktionärin Gail (Elisabeth Moss) in die Arme eines Kollegen
       trieben, reif für die Insel scheint und dem eh keine andere Wahl bleibt.
       
       Selbstverständlich treffen mit dem desillusionierten Menschenfeind Rongen
       und den gutherzigen, freundlichen Inselsportlern zwei Welten aufeinander.
       Und selbstverständlich sind es im Endeffekt nicht die tätowierten
       Polynesier:innen, die vom (aus der ehemaligen Kolonialmacht Holland)
       stammenden Profi lernen müssen, sondern umgekehrt.
       
       Aber Waititi bestückt seine bereits bekannte Geschichte derartig mit
       komischen Ideen, dass es ein großer Spaß ist – und vergisst nie die
       Erzählhaltung, die die Verhältnisse konsequent umkehrt und klarmacht, wer
       hier eigentlich wem hilft: „Gott, wir danken dir für Thomas Rongen“,
       erklärt der samoanische Teamchef bei einem der vielen gemeinsamen Gebete am
       Strand, „es war, als ob man einen kleinen weißen Jungen im Einkaufszentrum
       findet und ihm den Weg weist.“
       
       Der abgetakelte, von Fassbender mit vielen Stirnfalten gespielten Rongen,
       der sich Tag und Nacht betrinkt und kopfschüttelnd sowohl die Traditionen
       als auch die fehlenden Trainingsmethoden seiner hoffnungs- und formlosen
       Truppe beobachtet, muss zudem sein Urteil über Jaiyah Saelua (gespielt von
       Kaimana) revidieren: Die Innenverteidigerin gehört zu den in Samoa als
       „drittes Geschlecht“ bezeichneten „Fa’afafine“, das bedeutet „in der Art
       einer Frau“.
       
       ## Die sportlich überlegene, nichtbinäre Saelua
       
       Erstaunt erlebt der Trainer, wie die Spieler die [2][sportlich überlegene,
       nichtbinäre Saelua] selbstverständlich akzeptieren und sie freudestrahlend
       begrüßen, wenn sie frisch geschminkt und frisiert aufs Spielfeld trabt.
       „Sie ist wie eine Blume – und das ist doch gut für uns!“, verteidigen die
       Teamkollegen sie gegen Rongens diskriminierende Sprüche.
       
       Zwischen Kokosnüssen, Haka, Schnaps und viel Einsamkeit reift im Trainer
       irgendwann die keinesfalls neue, aber wahre Erkenntnis, dass es nicht um
       das Gewinnen geht, sondern ums Spiel. So weicht der Paternalismus, mit dem
       Rongen zunächst antrat und der die selbsternannte Autorität und
       Legitimation aller Besetzervölker der Welt spiegelt, einer Toleranz und
       ungetrübten Lebensfreude, die vielleicht manchmal ein wenig dick
       aufgetragen wirkt.
       
       Doch mit seinem Mitleid gegenüber den vermeintlichen weißen Weltherrschern
       ist „Next Goal Wins“ eine angenehm zweifelsfreie Selbstermächtigung, ein
       herrliches Witzgewitter – und ein Vorbild für den Umgang mit Sport,
       Identität und Gender: Zu Hause in Amerikanisch-Samoa hatte die echte Saelua
       ihre Geschlechtsidentität niemals rechtfertigen müssen.
       
       3 Jan 2024
       
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