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       # taz.de -- berliner szenen: Allzu viel Neues auf einmal
       
       Nach ein paar Tagen coronabedingter Isolation wage ich mich, eine Hand am
       Geländer, vom vierten Stock ins Erdgeschoss. Unten wackeln mir ein bisschen
       die Knie. Es ist 14 Uhr. Ziellos drehe ich eine Runde durch den Kiez. Es
       nieselt, doch irgendwie kommt es mir nicht in den Sinn, die Kapuze
       überzuziehen. Der Drang, mich wieder mit der Realität zu connecten, ist
       stärker. Auch meine Füße lassen sich nichts sagen. Statt an der Grenze des
       Viertels umzukehren, gehen sie erkundungslustig unter der Ringbahnbrücke
       durch. Rechts von mir ploppt eine Freifläche auf, deren Ausmaß ich nur
       allmählich erfasse. Waren hier nicht vor Kurzem Autoklitschen von
       zweifelhaftem Ruf und dahinter eine dem Verfall preisgegebene
       wilhelminische Schule sowie ein Hundeauslauf und -kotierungsareal? Selbst
       die Häuser, die bislang die Zufahrten flankierten, sind plattgemacht. Von
       ihnen zeugen nur noch Stapel von Holzbalken, Mauerziegeln und unsortiertem
       Schutt. In der Ferne heben Kettenbagger Baugruben aus. Der Regen hat
       aufgehört. Am neuen Sportplatz neben der Schulruine versinkt die Sonne in
       einem atemberaubenden Spektakel hinter den Wolken. Meisterhaft mischt sich
       die ganze Palette der Rot- und Blautöne. Im Neubau im Inneren des
       Gasometers flackern ein paar Lichter auf.
       
       Allzu viele Veränderungen auf einmal, denke ich, reibe mir die Augen und
       stapfe weiter zu einem sicheren Hafen, den es immer noch gibt. Noch vor der
       Ära der Spätis gab es hier nach Ladenschluss Brötchen, Zigaretten und Bier:
       die Tankstelle am westlichen Ende des Tempelhofer Wegs, der aber auch nicht
       mehr so heißt. Ich bestelle eine Bockwurst mit Senf und schnaufe durch.
       Doch bereits neben der Tanke klafft die nächste Baulücke, und auch die
       Straße zum Euref-Campus, bislang ein selbstmörderisches Katzenkopfpflaster,
       ist endlich asphaltiert und befahrbar. Timo Berger
       
       5 Jan 2024
       
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   DIR Timo Berger
       
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