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       # taz.de -- Bereitschaftshotline 116117: Selbsttriage im Netz
       
       > Über die Feiertage boomen die Anrufe bei der ärztlichen
       > Bereitschaftshotline. Wer sich schlecht fühlt, kann sich auch im Internet
       > selbst einschätzen.
       
   IMG Bild: „Wie genau sind die Schmerzen, stechend oder dumpf?“
       
       Berlin taz | Der junge Anrufer am Telefon klingt nervös: „Ich habe 37,3
       Grad Temperatur. Soll ich zur Arbeit gehen oder nicht?“ Die Mitarbeiterin
       am Telefon fragt geduldig nach: Gibt es Beschwerden, Erkältungssymptome
       vielleicht? „Wir geben keinen Rat, ob sich der Anrufer krankschreiben
       lassen soll oder nicht, das ist nicht unsere Aufgabe“, sagt Andrea
       Albrecht, Fachbereichsleiterin bei der Kassenärztlichen Vereinigung
       Brandenburg. „Die Disponentin am Telefon würde vielleicht empfehlen, dass
       der junge Mann seinen Hausarzt aufsucht, oder ihn auf eine entsprechende
       Praxisadresse verweisen.“
       
       Albrecht kennt die Bandbreite der Anrufer:innen, die sich unter der 116117,
       der Rufnummer für den ärztlichen Bereitschaftsdienst, melden. Ein Klassiker
       seien jungen Leute, die gerade bei den Eltern ausgezogen seien, alleine
       lebten und sich schon bei kleinen Beschwerden unsicher fühlten, erzählt
       sie.
       
       Ebenso typisch sei der Fall der alten Dame, die auf dem Land lebte und
       deren Mann plötzlich bewusstlos zusammengebrochen sei. „Das ist der
       absolute Ernstfall“, sagt Albrecht, „da wird dann gleichzeitig der
       Rettungswagen losgeschickt, während der Disponent am Telefon bleibt und
       womöglich Anweisungen zu Wiederbelebungsmaßnahmen gibt.“
       
       35.000 Mal wird pro Tag in Deutschland [1][die 116117 gewählt]. Dort
       erreicht man den ärztlichen Bereitschaftsdienst, ebenso wie die
       Terminservicestelle. Jetzt für die Feiertage rüsten sich diese wieder für
       einen besonderen Ansturm von Anrufer:innen. Zu Coronazeiten heftig
       beworben, gilt die Nummer inzwischen als eine Art Gegenmittel gegen
       überfüllte Notaufnahmen in Krankenhäusern und gegen das voreilige
       Alarmieren eines Rettungswagens unter der Notrufnummer 112.
       
       ## Durchschnittliche Wartezeit: 5 Minuten
       
       Ein Problem an der Hotline sind die langen Wartezeiten. „Es gibt kaum
       jemanden, der auf Anhieb durchkommt“, sagt Marcel Weigand, Abteilungsleiter
       bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD). Die KV Bayern
       ermittelte durchschnittliche Wartezeiten von fünf Minuten. In den Spitzen,
       etwa am Wochenende, kann das noch länger sein, erst recht in den
       Metropolen. Denn dort greifen die Leute auch bei weniger schweren Symptomen
       schneller zum Hörer als auf dem Land und erwarten von der 116117 dann auch
       schnellen Service, so die Erkenntnisse der KVen.
       
       Die Mitarbeiter:innen, die ans Telefon gehen, verfügen in der Regel
       über medizinische Vorbildung, sie sind zum Beispiel
       Rettungssanitäter:in oder Krankenpfleger:in. Für die Arbeit bei der
       Hotline brauchen sie zudem eine [2][Weiterbildung] in der sogenannten
       strukturierten medizinischen Ersteinschätzung, kurz SmED. Das ist ein durch
       Algorithmen gesteuerter, digitaler Fragebogen. Anhand dessen können die
       konkreten Beschwerden, deren Stärke und Dauer sowie Vorerkrankungen auch
       von Nichtärzt:innen ermittelt und dadurch auf die Dringlichkeit einer
       Behandlung geschlossen werden.
       
       Seit einiger Zeit können diesen [3][Fragebogen] auch Laien im Internet
       unter der www.116117.de abrufen und für eine Ersteinschätzung nutzen, also
       eine Art Selbsttriage machen. Am Ende des „Patienten-Navi-online“ bekommen
       sie dann eine Empfehlung hinsichtlich der Dringlichkeit von Arztbesuchen.
       
       In Berlin werden sie im Falle hoher Dringlichkeit sogar automatisch an die
       regionale KV-Leitstelle weitergeschickt. Dieses System planen auch andere
       KVen. „Dieser Fragebogen ist eine gute Sache, auch als erste
       Selbsteinschätzung, wenn man am Telefon in der Warteschleife hängt“, sagt
       Weigand. „Das kann Menschen helfen, die sich wegen ihrer Beschwerden Sorgen
       machen“.
       
       ## Wie akut sind die Beschwerden?
       
       Wer das Patienten-Navi-online nutzt, dem fällt auf, wie ausführlich und
       präzise der Fragebogen ist. Zu Beginn werden die hochbedrohlichen Symptome
       abgefragt, wie etwa Atemnot, Lähmungen, plötzliche Sprachstörungen,
       Bewusstlosigkeit. Das sind Symptome, die zur Alarmierung des Rettungswagens
       über die 112 beziehungsweise zur Notaufnahme führen. Liegen diese Symptome
       nicht vor, geht es detailliert zu den einzelnen Beschwerden.
       
       Wer zum Beispiel „Bauchschmerzen“ angibt, wird gefragt, wie stark die
       Schmerzen auf einer Skala von 1 bis 10 sind. Wo genau sitzt der Schmerz?
       Linker oder rechter Ober- oder Unterbauch? Ist er dumpf, stechend, brennend
       oder kolikartig? Hat man was Verdorbenes gegessen, nimmt man neue
       Medikamente, gibt es Vorerkrankungen und aktuelle Erkrankungen? Wer sich
       nur vage ein bisschen unwohl fühlt, kann sich wie ein Hypochonder vorkommen
       angesichts der konkreten Fragen der SmED.
       
       Eine Standardfrage lautet: Wie akut sind die Beschwerden? Länger andauernde
       Symptome erlauben möglicherweise, dass man auf die nächste Praxisöffnung
       wartet, als am Sonntag zum Bereitschaftsarzt zu gehen. Patient:innen, die
       schon seit drei Wochen Rückenschmerzen haben, aber erst am Wochenende einen
       Arzt sehen wollen, weil sie dann freihaben, sind der Albtraum für die
       Notaufnahmen in den Krankenhäusern.
       
       Je nach Antworten wird am Ende angegeben, ob man zur Notaufnahme gehen,
       sich schnellstmöglich oder aber spätestens innerhalb von 24 Stunden in
       Arztbehandlung begeben soll. Oder ob es reicht, erst in den nächsten Tagen
       eine Praxis aufzusuchen. Diese Digitalisierung ist in anderen Ländern, etwa
       in Finnland, schon viel verbreiteter als hier.
       
       ## 40 Prozent müssen sofort zum Bereitschaftsdienst
       
       Laut Zahlen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (zi)
       haben im November 2023 rund 20.600 Menschen die digitale
       Patientenselbsteinschätzung genutzt, Tendenz steigend. „Eine stärkere
       Nutzung von SmED durch die Patienten wäre wünschenswert“, findet Roland
       Stahl, Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV).
       
       Die wenigsten Ratsuchenden am Telefon der 116117 erweisen sich als
       Notfälle. Laut der [4][Statistik] des zi werden von den Anrufer:innen, die
       von den Mitarbeiter:innen der 116117 ersteingeschätzt werden, nur rund
       fünf Prozent als Notfall definiert. Gut 40 Prozent der Anrufenden raten die
       Mitarbeiter:innen am Telefon, schnellstmöglich den Bereitschaftsdienst
       aufzusuchen, wobei die Mehrzahl dieser Bereitschaftspraxen in oder an
       Krankenhäusern angesiedelt ist. Sind die Patient:innen nicht mobil,
       können sie fahrende Bereitschaftsärzte kontaktieren.
       
       34 Prozent wird ein Arztbesuch innerhalb von 24 Stunden empfohlen,
       womöglich kann man also auf die nächste reguläre Sprechstunde des
       Hausarztes unter der Woche warten. 17 Prozent wird gesagt, sie können sich
       noch mehr Zeit lassen mit einem Praxisbesuch.
       
       Finanziert wird die Nummer 116117 aus den Honorartöpfen der regionalen
       Kassenärztlichen Vereinigungen. Diese bemängelten zuletzt steigende Kosten
       für die Bereitschaftsärzte. Denn diese dürfen nach einem Gerichtsurteil
       nicht mehr als Honorarkräfte beschäftigt, sondern müssen festangestellt
       werden, was teurer ist.
       
       ## Auf dem Land wird die Arztsuche schwierig
       
       Die Nummer, die von den regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen)
       betrieben wird, vermittelt auch Termine bei Fachärzten, je nach Fachgebiet
       mit oder ohne Überweisungsschein durch einen Hausarzt. Termine kann man
       auch digital über die Website 116117.de oder über eine App buchen.
       
       Laut Gesetz steht Patient:innen bei Dringlichkeit ein Termin bei einem
       Facharzt spätestens innerhalb von vier Wochen zu. Das Problem: In dünn
       besiedelten ländlichen Gebieten gibt es manchmal gar keinen erreichbaren
       Facharzt, der innerhalb dieses Zeitraums Termine frei hat.
       
       „Wir können uns leider keine Ärzte backen“, sagt Holger Rostek, Vorstand
       der KV Brandenburg, „in einzelnen Regionen haben wir das Problem, dass es
       einfach keine Ärzte gibt. Da müssen wir die Patienten dann relativ weit zu
       anderen Ärzten schicken und in einzelnen Fällen kommt es dann auch zu einer
       längeren Wartezeit“.
       
       Ist in abgelegenen Regionen kein Facharzttermin bei einem niedergelassenen
       Arzt möglich, „haben die Patienten das Recht, über die Terminservicestellen
       einen ambulanten Termin in einer Klinik vermittelt zu bekommen. Dies
       geschieht aber leider nicht“, so Patientenberater Weigand.
       
       Er wünscht sich mehr Transparenz im Gesundheitswesen. „Wir bräuchten mehr
       Transparenz über die fachärztliche Versorgung in den einzelnen Regionen“,
       sagt er. Damit würde man die eklatante Unterversorgung in manchen Gebieten
       offenlegen. Eine Unterversorgung, an der auch die 116117 erst mal nichts
       ändert.
       
       22 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.116117.de/de/index.php
   DIR [2] https://www.kbv.de/media/sp/116117_Mustercurriculum_Mitarbeitende_Callcenter.pdf
   DIR [3] https://patient.smed.health/#/pathfinder/chatbot
   DIR [4] https://smed.ziapp.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
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