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       # taz.de -- Möglicher AfD-OB in Sachsen: Pirna tanzt auf Messers Schneide
       
       > AfD-Kandidat Tim Lochner hat gute Chancen, am Sonntag der erste
       > Oberbürgermeister der AfD zu werden. Ihm hilft das Zerwürfnis im
       > demokratischen Lager.
       
   IMG Bild: Pirna vor der zweiten Runde der Oberbürgermeisterwahl am 17. Dezember
       
       Berlin taz | Eine Szene hat sich Hanna Schulz vom Bündnis „Sächsische
       Schweiz-Osterzgebirge gegen rechts“ ins Gedächtnis gebrannt: Am Tag nach
       dem ersten Wahlgang zum Oberbürgermeister von Pirna hatten die Freien
       Sachsen um den Neonazi Max Schreiber in die sächsische Kreisstadt
       mobilisiert. Ihre Demo zog an dem Montagabend Ende November mit
       Reichsfahnen, Flaggen der Freien Sachsen und der „Heimat“, wie sich die NPD
       heute nennt, völkischer Musik und Kuhglockenlärm unter dem Motto „Keine
       Ruhe den Altparteien“ durch die 40.000-Einwohner-Stadt zwischen Dresden und
       der tschechischen Grenze.
       
       Die Neonazi-Demo endete vor dem Kreistag und der benachbarten
       [1][NS-Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein]. Also exakt dort, wo die Nazis
       systematisch 14.720 psychisch Kranke und geistig behinderte Menschen in der
       Vernichtungsaktion „T4“ ermordeten. Die Asche der Vergasten und Verbrannten
       verteilten sie auf dem Hügel hinter den bis heute teils erhaltenen
       Gebäuden.
       
       An jenem Montag wurde der Demozug der Freien Sachsen genau hier von
       AfD-Unterstützern empfangen. Eigentlich gibt es in der Partei einen
       Unvereinbarkeitsbeschluss zu den Freien Sachsen und zur NPD, respektive der
       „Heimat“, sowieso. Hier, vor der NS-Gedenkstätte, übten die
       Demonstrierenden allerdings den offenen Schulterschluss. Auch mehrere
       AfD-Kreistagsabgeordnete schlossen sich dem Protest an. Schulz sagt: „Es
       war fürchterlich – und trotzdem versuchen Leute hier immer noch, das
       Problem mit dem Rechtsruck wegzudiskutieren.“
       
       Tags zuvor hatte der AfD-Kandidat Tim Lochner beim ersten Wahlgang der
       Oberbürgermeisterwahl von Pirna mit knapp 33 Prozent die meisten Stimmen
       geholt. Weil er die absolute Mehrheit verfehlte, wird kommenden Sonntag
       noch mal gewählt. Diesmal reicht laut sächsischem Kommunalwahlgesetz, das
       keine Stichwahl vorsieht, eine einfache Mehrheit. Nun droht der Einzug der
       rechtsextremen und geschichtsrevisionistischen AfD ins Rathaus. Lochner
       wäre bundesweit der erste Oberbürgermeister der AfD.
       
       ## „Nie wieder CDU“ funktioniert hier nicht
       
       Hanna Schulz, die mit ein paar Dutzend Personen gegen die Neonazi-Demo
       protestierte, heißt eigentlich anders, will aber ihren richtigen Namen aus
       Angst vor rechten Drohungen nicht in der Zeitung lesen. Sie klingt
       ernüchtert, wenn sie erzählt, wie tiefgreifend der Rechtsruck in ihrer
       Region ist – etwa wenn der rassistische Demoaufruf der Freien Sachsen in
       nahezu jeder Familien-Chatgruppe der Region lande und 3.000 Menschen in
       einem kleinen Kurort wie Berggießhübel gegen Geflüchtete demonstrieren.
       
       Einige aus ihrem erst im August überwiegend von Schülern gegründeten
       Bündnis trauten sich damals im September nicht gegen die Freien Sachsen zu
       demonstrieren, weil sie Angst hatten, Verwandte, Nachbarn oder Freunde auf
       der Gegenseite zu treffen – und erkannt zu werden und danach als
       Nestbeschmutzer zu gelten „oder gleich von Oma enterbt zu werden“, sagt
       Schulz.
       
       Beim zweiten Wahlgang am Sonntag kommt es zu einem Dreikampf: Gegen Lochner
       treten erneut die Freien Wähler an sowie eine CDU-Kandidatin. Hanna Schulz
       sagt resigniert: „Ein Glück, dass ich die CDU wählen kann – das ist das
       Linkeste, was wir gerade haben. Wenn ich nur daran denke, bekomme ich Lust
       auf Glühwein.“ Das Motto „Nie wieder CDU“ funktioniere hier nicht – sie
       hoffe, dass die CDU-Kandidatin das Rennen mache.
       
       Dafür spricht einiges: Zuletzt verlor die AfD Oberbürgermeisterwahlen und
       bereits sicher geglaubte Kommunalwahlen, obwohl sie jeweils im ersten
       Wahlgang teils deutlich vorne lag. Allerdings haben viele noch die Wahl von
       Robert Sesselmann zum [2][ersten AfD-Landrat im thüringischen Sonneberg] im
       Sommer im Hinterkopf.
       
       ## Verbindungen zu Völkischen und Neonazis
       
       In Pirna immerhin gilt der Tischlermeister Lochner als schwacher und in der
       Stadt eher unbeliebter Kandidat. Er hatte vor Ort die Corona-Proteste
       mitorganisiert, holte aber trotz des derzeitigen Umfragehochs der AfD im
       ersten Wahlgang sogar weniger Stimmen als 2017 – was noch immer für den
       ersten Platz reichte.
       
       Lochner ist kein AfD-Mitglied, tritt aber zum wiederholten Mal auf dem
       Ticket der in Sachsen jüngst vom Verfassungsschutz als „gesichert
       rechtsextremistisch“ eingestuften Partei an und ist auch Fraktionsmitglied
       im Kreistag. Auf eine taz-Anfrage reagierte er nicht. Auf Facebook ist
       Lochner auch mit dem Neonazi Max Schreiber von den Freien Sachsen
       befreundet. So überrascht dann auch nicht, dass der Neonazi Wahlwerbung für
       den AfD-Kandidaten macht.
       
       Wie wichtig es der AfD ist, erstmals eine Oberbürgermeisterwahl zu
       gewinnen, zeigt sich auch an der prominenten Unterstützung für Lochner im
       Wahlkampf vor allem aus dem völkisch-nationalistischen Flügel der Partei:
       So kamen unter anderem sowohl der Vize-Bundessprecher Stephan Brandner als
       auch der Spitzenkandidat für die Europawahl, Maximilian Krah, auf den
       Pirnaer Markplatz, um vor ein paar Dutzend Leuten rassistische
       Verschwörungsideologien von „Umvolkung“ und „großem Austausch“ zu
       verbreiten. Auch NS-Relativierung durfte nicht fehlen, als Krah
       ausgerechnet in Pirna davon sprach, dass „die anderen euch einreden wollen,
       dass eure Vorfahren Verbrecher waren“.
       
       ## Zerwürfnis im demokratischen Lager
       
       Helfen dürfte Lochner im zweiten Wahlgang aber vor allem das Zerwürfnis im
       restlichen politischen Lager. Denn Lochners Konkurrenz nimmt sich die
       Stimmenanteile möglicherweise gegenseitig weg: Neben Ralf Thiele von den
       Freien Wählern tritt für die CDU Kathrin Dollinger-Knuth an, die im zweiten
       Wahlgang auch von SPD, Linken und Grünen unterstützt wird.
       
       Gespräche für ein abgestimmtes Vorgehen sollen gescheitert sein, auch weil
       Thiele von den Freien Wählern gleich am Tag nach dem ersten Durchgang
       ankündigte, in der zweiten Runde erneut anzutreten. Thiele wird von
       Lokalprominenz wie dem in Sachsen bekannten Kabarettisten Tom Pauls alias
       Ilse Bähnert unterstützt. In dessen Talkrunde sprach Thiele sich gegen
       „relativ bunte Bündnisse“ von Parteien aus. Thiele war lange Stadtrat und
       ist als Unternehmer und Vorstandsvorsitzender der Lebenshilfe gut vernetzt.
       Im ersten Wahlgang wurde er mit 23 Prozent Zweiter.
       
       Aber auch die knapp dahinter mit 20 Prozent drittplatzierte CDU-Kandidatin
       Dollinger-Knuth tritt erneut an. Auf taz-Anfrage sagte die 51-jährige
       ehemalige Landrätin, sie habe nach Absprachen mit SPD, Grünen und dem
       parteilosen Kandidaten Liebscher rund 44 Prozent der Stimmen hinter sich
       vereint. Thiele von den Freien Wählern habe Gesprächsangebote
       ausgeschlagen. Dollinger-Knuth sagte der taz: „Wir wollen die politischen,
       aber auch gesellschaftlichen Kräfte in unserer Stadt zusammenführen, um ein
       modernes und zukunftsgewandtes Pirna gemeinsam zu gestalten.“
       
       Bei den Grünen gibt es schon länger Zweifel, ob das mit den Freien Wählern
       möglich sei. Sie [3][kritisieren die Partei] in Pirna für einen
       populistischen [4][Kurs in der Energiekrise]. Ebenso werfen die Grünen
       ihnen mangelnde Distanz zu rechten Kreisen vor: So habe ein
       Vorstandsmitglied Ende November 2022 zu einer Veranstaltung eingeladen, bei
       der der [5][rechtsextreme Verleger und Höcke-Freund Götz Kubitschek] einen
       Vortrag halten sollte.
       
       Auf taz-Anfrage sagt Bärbel Falke, Sprecherin der Grünen Pirna, es sei
       dennoch nicht von der Hand zu weisen, dass der Dreikampf am Ende der AfD
       nutzen könnte: „Es ist ein Tanz auf Messers Schneide.“ Unterm Strich habe
       man sich aber für die Unterstützung von Dollinger-Knuth entschieden – die
       sei eine „wirkliche Demokratin, die sich klar von rechts abgrenzt und
       bereit ist für breitere Bündnisse der Stadtgesellschaft“, so Falke.
       
       Ähnlich positionierten sich auch Linke und SPD, deren Kandidat Ralf Wätzig
       der taz sagte, dass es einige Stimmen gegeben hätte, die weder Thiele noch
       Lochner für wählbar hielten. Dollinger-Knuth hingegen habe als Person immer
       einen respektvollen Umgang gepflegt und unterstütze eine Vielzahl
       sinnvoller Ideen für Pirna, so Wätzig: „Sicher vereint dieses breite
       Bündnis das Minimalziel, einen AfD-Oberbürgermeister für Pirna zu
       verhindern.“
       
       ## Stadtgesellschaft in Sorge
       
       Mittlerweile bewegt sich auch zivilgesellschaftlich etwas in Pirna. Der
       ansässige gemeinnützige Verein „Aktion Zivilcourage“ wirbt vor dem zweiten
       Wahlgang vor allem für eine höhere Wahlbeteiligung – Geschäftsführer
       Sebastian Reißig fand es alarmierend, dass bei einer solchen Richtungswahl
       nur 50 Prozent der Wahlberechtigten abstimmten. Deswegen habe der Verein
       mit der Kampagne „5-3-7“ für eine hohe Wahlbeteiligung geworben. Motto: „5
       Minuten ihrer Zeit entscheiden am 3. Advent über 7 Jahre Pirna!“ – so lange
       dauert die Amtszeit eines Oberbürgermeisters.
       
       Eine parteipolitische Positionierung vermeidet das Bündnis. Sebastian
       Reißig sagte der taz, dass man in der Vereinssatzung parteipolitische
       Neutralität verankert habe und sich deswegen zum neutralen Wahlaufruf
       entschieden habe: „Die Leute entscheiden, ob wir ein freundliches und
       weltoffenen Gesichts zeigen oder nicht.“
       
       Die positive Resonanz auf die Kampagne mache ihn insgesamt hoffnungsfroh,
       sagt Reißig. Der Aufruf komme in der Stadt sehr gut an, die Poster hingen
       in vielen Schaufenstern der Innenstadt und der Wahlaufruf werde in den
       sozialen Netzwerken verbreitet. Zugleich sei die Sorge vor einem Sieg der
       AfD in der Stadtgesellschaft, in Vereinen und Unternehmen groß, so Reißig –
       vor allem was Investitionen angehe: „Es gibt Vorhaben, die Innenstadt mit
       Hotelansiedlungen neu zu beleben – die Wahl der AfD würde das nicht
       leichter machen.“
       
       ## Gedenkstätte grenzt sich von AfD ab
       
       Immerhin: Die Einflussmöglichkeiten auf die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein
       wären für einen Oberbürgermeister Tim Lochner begrenzt, weil der
       Erinnerungsort von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten in freier
       Trägerschaft betrieben wird. Das stellte der Geschäftsführer der Stiftung,
       Markus Pieper, gegenüber der taz klar. Darüber hinaus verneint er jedwede
       Kooperation oder Zusammenarbeit mit der AfD: „Unsere Gedenkorte haben den
       gesetzlichen Auftrag, das ehrende Andenken an die Opfer der NS-Diktatur
       wachzuhalten. Das schließt aus, dass wir extremistischen Parteien und
       Organisationen Raum geben oder mit ihnen zusammenarbeiten.“
       
       Ebenso lehne man Delegationsbesuche der AfD grundsätzlich ab. Gleichwohl
       gebe es natürlich für gewöhnlich Berührungspunkte mit der Kommune vor Ort,
       etwa bei Gedenkveranstaltungen oder Jahrestagen. Aber die Stiftung ziehe
       bei der AfD auch hier eine rote Linie, sagt Piepert mit Verweis auf die
       kürzliche Einstufung des Landesverbands in Sachsen als gesichert
       rechtsextrem durch den Verfassungsschutz: „Für uns ist ein entscheidender
       Punkt, dass sich das Menschenbild der AfD aus nationalsozialistischen
       Traditionen speist. Wir können nicht mit der AfD zusammenarbeiten und tun
       das auch nicht.“
       
       Der Gauland-Vergleich vom Fliegenschiss, aber auch die Höcke-Forderung von
       einer erinnerungspolitischen Wende stünden den Positionen der Stiftung
       diametral entgegen.
       
       Für die Stadtgesellschaft in Pirna bleibt es nicht nur aufgrund der
       Symbolwirkung ein großes Risiko, dass Lochner der erste Oberbürgermeister
       der AfD wird. Seine Wahl hätte wohl verheerende Folgen für Menschen, die
       von Rassismus betroffen sind – und auch für zivilgesellschaftlich
       Engagierte. Sollte die AfD am Ende tatsächlich gewinnen, will Hanna Schulz
       vom „Bündnis Sächsische Schweiz Osterzgebirge“ sich erst recht weiter gegen
       rechts engagieren – am Sonntag bräuchte sie aber vermutlich erst einmal
       einen Glühwein mehr.
       
       15 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.stsg.de/cms/pirna/startseite
   DIR [2] /Fuenf-Monate-AfD-Landrat-in-Thueringen/!5978732
   DIR [3] https://gruene-pirna.de/2022/10/03/irrlichtern-ueber-pirna/
   DIR [4] https://www.saechsische.de/pirna/pirna-freie-waehler-melden-demo-zur-energiekrise-an-kosten-erdgas-strom-sozialer-frieden-5762337-plus.html
   DIR [5] https://gruene-pirna.de/2022/12/13/haben-die-freien-waehler-in-pirna-ein-demokratieproblem/
       
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