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       # taz.de -- Nachruf auf Toni Negri: Der Autonomia größter Denker
       
       > Er war einer der führenden Theoretiker der italienischen Linken. In der
       > Nacht zu Samstag ist der Philosoph Antonio Negri gestorben.
       
   IMG Bild: Toni Negri im Januar 2004
       
       In den 1990er Jahren begannen wir im Berliner ID Verlag und über die
       Zeitschrift Die Beute Schriften von Toni Negri zu veröffentlichen. Toni war
       als historischer Anführer der italienischen Autonomia und zuvor der
       Strömung Potere Operaio sowie als Philosoph und Staatstheoretiker damals
       bereits eine Legende. Zumindest in den Zirkeln der undogmatischen Linken
       der 1980er und 90er Jahre.
       
       Die ins Deutsche übersetzten Werke trugen Titel wie „Umherschweifende
       Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion“ (1998). Oder „Die Arbeit
       des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne“ (1997).
       Letzteres Buch hatte er bereits [1][gemeinsam mit Michael Hardt] verfasst.
       Aber kaum jemand hätte geglaubt, dass das Autorenduo mit „Empire. Die neue
       Weltordnung“ schon bald einen internationalen Bestseller veröffentlichen
       würde. „Empire“ traf 2000 den Nerv der Zeit.
       
       Denn Negri und Hardt analysierten sehr treffend die globalen Veränderungen
       des Netzwerkkapitalismus, die Deterritorialisierung der Produktion und die
       Informatisierung der Arbeit. Sie erfassten die empirisch feststellbaren
       Veränderungen des globalen Kapitalismus und versuchten daraus utopische
       Momente für ein besseres Leben zu gewinnen. Die Bedeutung von
       Nationalstaaten sahen sie schrumpfen – und begrüßten dies. Statt einem
       einzigen geographisch zu lokalisierenden ökonomischen imperialen Zentrum
       sahen sie viele. Ein Land konnte in der Fläche der „Dritten Welt“
       angehören, doch seine Eliten in ihren Kernen der ersten.
       
       Auf „Empire“ folgte der Band „Multitude“, und der Versuch, die neue Menge
       der gesellschaftlich Arbeitenden als potentiell revolutionäres Subjekt
       genauer zu umreißen. In der Bundesrepublik waren die Köpfe der
       1970er-Jahre-Autonomie, der Spontis und undogmatischen Linken um Joschka
       Fischer und Daniel Cohn-Bendit größtenteils zu den Grünen gegangen.
       
       Doch in Italien waren die Auseinandersetzungen ungleich zugespitzter,
       härter und unversöhnlicher. Die Autonomia war eine militante
       Massenbewegung. [2][Negris Freund und Weggefährte, der Schriftsteller Nanni
       Balestrini], hat ihr in dem Roman „Die Unsichtbaren“ eine herausragende
       literarische Überlieferung geschaffen.
       
       Verhaftet nach dem Mord an Aldo Moro 
       
       In Reaktion auf die Attentate der Roten Brigaden und der linken Aufstände
       stand Italien in den 1970ern unmittelbar vor einem rechten Staatsstreich.
       [3][Nach dem Mord der Roten Brigaden an dem Christdemokraten Aldo Moro
       1978] eskalierte die Lage weiter. Negri und andere führende Köpfe der
       Autonomia wurden in der Folge verhaftet. Negri, Professor für Staatstheorie
       in Padua, wurde zum vermeintlichen Anführer der Roten Brigaden stilisiert.
       1983 konnte er sich ins Exil nach Frankreich absetzen. Dort lebte er die
       nächsten 14 Jahre.
       
       Er lehrte und nahm dort auch öffentliche soziologische Forschungsaufträge
       wahr. 1997 wollte er der juristischen Auseinandersetzung mit dem
       italienischen Staat nicht länger ausweichen. Bei der Rückkehr wurde er in
       Rom verhaftet. Er verbüßte im Anschluss eine bis 2003 dauernde Haftstrafe,
       die letzten Jahre dabei als Freigänger. Tagsüber durfte er das Gefängnis
       verlassen, nachts musste er sich zurück in seine Zelle begeben und
       einschließen lassen.
       
       In einem persönlichen Gespräch berichtete er davon, wie unversöhnlich einst
       die Positionen zwischen den Roten Brigaden und den Militanten der Autonomia
       waren. Den Roten Brigaden galten Leute wie er als Verräter. Negri lehnte
       deren Eskalations- und Mordstrategie ab. Symbolisch hätten sie ihn, so
       erzählte er es, bei einem Aufenthalt im gleichen Gefängnis, in einer
       Sitzung zum Tode verurteilt.
       
       Ein internationaler Theoriestar 
       
       Die neuerliche Verhaftung 1997 in Italien, die folgende
       [4][Veröffentlichung von „Empire“ im Jahr 2000] und seine fortgesetzte, so
       leidenschaftliche wie brillante Diskursfreude machten aus Toni Negri Anfang
       des Jahrtausends einen internationalen Theoriestar. Die KP-Ideologien
       schienen mit dem Zerfall der Sowjetunion endgültig ausgedient zu haben, die
       Globalisierung setzte Beweglichkeit und neue Kräfte frei.
       
       In den 1990er Jahren waren Negris Schriften noch eher schwer verkäuflich
       gewesen. Es war nun eine Freude, zu beobachten, wie Toni Negri seine
       wiedergewonnene Reisefreiheit auskostete und gerade auch im kulturellen
       Raum jene Anerkennung bekam, die ein scharfer Denker der Autonomie wie er
       verdiente.
       
       Mitunter konnten seine Auftritte dabei eine durchaus dramatische Wendung
       bekommen. Es war 2004, als Toni Negri am Schauspielhaus Zürich auf einer
       Veranstaltung sprach, die ich moderierte. Teile der Autonomen-Szene aus dem
       Umfeld der Roten Fabrik warfen uns „Ausverkauf“ vor. Wir saßen tatsächlich
       vor ausverkauftem Saal auf der Bühne im Schiffbau des Schauspielhauses
       Zürichs.
       
       Negri – ein Leben lang dem Gedanken nach einem autonomen Leben in
       Menschenwürde, sozialer Gerechtigkeit, Egalität und Freiheit verpflichtet –
       brachten die eindimensionalen Polemiken gegen ihn zur Weißglut. Die hinter
       Masken verborgenen anonymen Zwischenrufer schienen auf ihn herausfordernd
       und darin anregend zu wirken. Sofort verließ er seine Vortragsroutine.
       
       In Rhetorik gewieft 
       
       Jetzt ging es um etwas. Und Negri hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er
       erhob sich und redete im Stehen. Den stumpfen Vorwurf des Opportunismus
       wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Der gewiefte Rhetoriker legte
       nacheinander Jackett und Pullunder ab, krempelte die Hemdärmel hoch und
       begann in zunehmender Erregung zum Zürcher Publikum zu sprechen.
       
       Er erzählte von seiner Herkunft und was ihn prägte: von dem
       bäuerlich-plebejischen Background des Elternhauses, dem Elend der alten
       Fabrikarbeit, dem Dogmatismus der KP, den Kämpfen der früheren Autonomie
       und sich verändernden Gegebenheiten, die man zu reflektieren habe, anstatt
       Neiddiskurse über Räume und manchmal ganze Staaten hinweg zu führen. Vor
       dem Digitalen drehte sich tatsächlich ja vieles bei der Autonomie um Räume,
       um feste Gegenkulturen, alternativen Lebensformen und klar ablesbare Codes.
       
       Der Gegenwart zugewandt 
       
       Negri konnte sehr kämpferisch sein, aber auch verschmitzt, humorvoll und
       höflich. Er strahlte Respekt und Offenheit aus, Charme und Stilsicherheit,
       die in den deutschen Szenen eher selten anzutreffen waren. Seine Augen
       konnten aber auch leuchtende Blitze aussenden. Und einmal in Rage geredet,
       war der Philosoph ein Ereignis.
       
       Dann war Negri schlicht furios, wusste, wie er den Saal einfing, war
       witzig, scharf, eine authentische und integre Persönlichkeit. Er schien in
       völliger existentieller Übereinstimmung mit dem zu sein, was er sagte und
       einforderte. Dabei verklärte er die Kämpfe der Vergangenheit nicht. Er
       blieb der Gegenwart zugewandt und an den Perspektiven anderer interessiert.
       
       Wie seine Partnerin, die französische Philosophin Judith Revel, und seine
       Tochter Anna Negri auf Social Media mitteilten, ist Toni Negri nun in der
       Nacht auf den 16. Dezember im Alter von 90 Jahren in Paris gestorben.
       
       17 Dec 2023
       
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