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       # taz.de -- R&B jenseits des Mainstreams: Kraftvoll, laut und sphärisch
       
       > Der R&B wurde in den USA 2023 abseits des Mainstreams von progressiven
       > Künstlerinnen geprägt. Wie klingen Victoria Monét, Liv.e und Niecy Blues?
       
   IMG Bild: Gospel als Ambientklänge: die Musikerin Niecy Blues
       
       Nach dem Ende der Soul- und Funkära modernisierte sich die Schwarze
       Popmusik der USA in den späten 1980er Jahren. Auf unterschiedliche Weise
       beeinflusst vom aufkommenden HipHop und von House, entwickelten sich im
       darauffolgenden Jahrzehnt Stilformen, die sich grob in drei Lager einteilen
       lassen: ein Mainstream mit Superstars wie [1][Mary J. Blige, Janet Jackson
       und Brandy sowie Gruppen wie TLC und Destiny]’s Child. Dahinter steckten
       oft Produzenten wie Teddy Riley, Jam & Lewis, Babyface und Jermaine Dupri;
       die futuristischen Breakbeat-Experimente, die Timbaland für Missy Elliott,
       Aaliyah und Ginuwine konzipierte, und schließich die Neo-Soul-Bewegung um
       [2][Erykah Badu] und D’Angelo, die klassischen Soul mit HipHop-Beats zu
       vereinen suchte.
       
       Diese klaren Abgrenzungen gibt es auch in dieser Musikrichtung längst nicht
       mehr. [3][R&B als Stil ist deutlich vielfältiger geworden]. Und die
       Musiker*innen sind nicht mehr nur Interpreten von fremdem Material,
       sondern sie verfassen und produzieren mittlerweile vielfach selbst.
       
       Victoria Monét ist Komponistin und Musikerin. Die 34-Jährige hat in der
       Vergangenheit Singles etwa für Ariana Grande komponiert. Klar, dass sie
       auch an den elf Stücken ihres Debütalbums „Jaguar II“ mitgewirkt hat. Ihr
       Album ist beim Majorlabel RCA erschienen.
       
       Klangtechnisch auf der Höhe der Zeit, ist sie tief in der Schwarzen
       Pop-Geschichte aus Soul, Funk Reggae und Rap verwurzelt, ohne einer
       Retroästhetik zu huldigen. Vielmehr ist bei Monét Musiktradition eher über
       Zitate und Anspielungen präsent: Vor Kraft strotzende Bässe und
       Bläserarrangements durchziehen die Stücke wie bei den Funk-Bands der
       1970er, und tatsächlich schauen die Legenden von Earth, Wind & Fire in dem
       Stück „Hollywood“ auf einen Sprung vorbei.
       
       In „Smoke Reprise“ erklingt eine Sitar als fernes Echo auf die Sweet
       Soul-Balladen aus Philadelphia. [4][Der jamaikanische Dancehall-Star der
       1990er Jahre, Buju Banton], kratzt in „Party Girls“ mit seiner rauen Stimme
       an der auf Hochglanz polierten Oberfläche.
       
       ## Hymne weiblicher Selbstermächtigung
       
       Outkast-Fans, die mit den esoterischen Flötentönen von Andre 3000 fremdeln,
       sollten sich dringend „Cadillac (A Pimp’s Anthem)“ anhören, ein Track, der
       auch auf dem Meisterwerk „Aquemini“ des US-Duos passen würde. Und dann ist
       da noch die Single „On My Mama“, die auf dem Stück „I Look Good“ (2009) des
       Rappers Chalie Boy basiert. Hier gelingt Monét das Kunststück, die
       materialistische Fetischisierung von Designerkleidung des Originals in eine
       Hymne weiblicher Selbstermächtigung zu verwandeln.
       
       Während das Album von Victoria Monét mit Majorlabelunterstützung realisiert
       wurde, ist das zweite Album „Girl in the Half Pearl“ von Liv.e bei einem
       Indie-Label erschienen. Die 17 Stücke wurden komplett von Hailee Olivia
       Williams geschrieben, wie Liv.e mit bürgerlichem Namen heißt, und auch
       größtenteils von ihr selbst produziert. In ihnen erweitert die 25-Jährige
       den Sound von R&B in Richtung Club mit Anleihen an britische Jungle- und
       Drum-’n’-Bass-Rhythmen.
       
       Damit ist sie nicht allein, finden sich solche Anleihen auch bei
       [5][Kelela] und Rochelle Jordan. Liv.e treibt den vertrackten Beats jedoch
       ihre Partylaune aus und verwendet sie als Ausdruck psychischer Ängste, wenn
       sie etwa wie beim Auftaktsong „Gardetto“ dazu singt: „When I look inside my
       brain / There were all these words of pain“. Auf dem klassischen
       „Amen“-Break baut „Ghost“ auf. Der schepperende Rhythmus steht in Kontrast
       zu den langsam wechselnden Keyboardakkorden.
       
       Diese ausgeglichene Spannung kippt, sobald die verzerrte Stimme von Liv.e
       einsetzt. Mehr schreiend als singend dreht sich der Text um Verlassenheit
       und Rückzug. Es sind diese inneren Zustände und Gefühlsschwankungen, für
       die Liv.e musikalische Minidramen voller Widersprüche und plötzlicher
       Wechsel findet. „Clowns“ beginnt mit einem sparsamen elektronischen Beat,
       über den sich der Gesang aufbaut, bis er zu einem brachialen Wutausbruch
       anschwillt. Dieser löst sich schließlich in jazzigen Bläsersätzen auf – das
       Ganze komprimiert in gerade einmal zwei intensiven Minuten.
       
       ## Ins Atmosphärische transzendiert
       
       Wenn Liv.e in ihren Stücken mit klassischen Songstrukturen bricht und auf
       Refrains und eingängige Hooklines zugunsten von Stimmungsbögen und
       Kontrasten verzichtet, werden bei Heather Sinclair melodische Linien ins
       Atmosphärische transzendiert. Unter ihrem Künstlerinnennamen Niecy Blues
       hat die aus South Carolina stammende Sinclair diesen Herbst ihr Debütalbum
       „Exit Simulation“ veröffentlicht.
       
       Begleitet von ihrer Gitarre, legt Niecy Blues in den 13 Stücken ihres
       Debüts Gesangschicht auf Gesangsschicht. Spärlich eingesetzte
       Rhythmusinstrumente dienen dazu, den Takt bloß zu markieren, wie der
       gedehnte Bass in „U Care“ oder das Schlagzeug in „The Architect“, das wie
       bei einer Komposition der Minimal Music rein mechanisch abzulaufen scheint.
       Durch zusätzliche Halleffekte wie bei „The Nite B4“ gleichen die Stücke an-
       und wieder abschwellenden Klangflächen, unter denen Emotionen pulsieren.
       
       Geschrieben, produziert und arrangiert von Niecy Blues selbst, hat sie
       Unterstützung von Khari Lucas bekommen, der als Contour mit dem Album
       „Onwards!“ eine der großartigsten R&B-Werke von 2022 vorgelegt hat. „Exit
       Simulation“ ist beim US-Indie-Label Kranky erschienen, dessen Schwerpunkt
       früher auf Ambient lag, eine passende Verbindung für Niecy Blues.
       Allerdings hat ihre Version von Ambient kaum etwas mit Brian Eno zu tun,
       ihr begegnete dieser Sound zum ersten Mal in der langsamen Gospelmusik, die
       sie schon im Kindesalter in der Kirche gehört hat.
       
       Auseinandersetzung mit der Geschichte, Verarbeitung von seelischen
       Zuständen, Übergang in spirituelle Sphären – ein reichhaltiges Jahr für die
       R&B-Musik in den USA und eine Möglichkeit zur künstlerischen Emanzipation
       für progressive junge Musikerinnen.
       
       20 Dec 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Sven Beckstette
       
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