URI: 
       # taz.de -- „Blutiges Weihnachten“ in Zypern: Versöhnliche Knochen
       
       > Am 21. Dezember 1963 eskaliert die Gewalt zwischen griechischen und
       > türkischen Zyprioten. Eine gemeinsame Initiative sucht jetzt nach den
       > Vermissten.
       
       Bellapais/Nikosia taz | Mit höchster Konzentration, ganz behutsam, Schicht
       für Schicht, trägt Ergin Taranci die vom Nieselregen feuchte Erde mit einer
       Baggerschaufel ab. Nur eine unbedachte Bewegung, ein zu tiefes Ansetzen
       reicht, um die unter der Erde womöglich liegenden Funde zu beschädigen.
       Taranci ist erfahren, er leistet Präzisionsarbeit. Mit Argusaugen
       beobachtet der Archäologe Ali Çulluoğlu, pechschwarzes Haar, Vollbart,
       olivgrüne Hose, den Boden und die frisch abgetragene Erde auf der Schaufel,
       bevor der versierte Baggerführer sie auf einen Haufen bereits abgetragener
       Erde wirft. Immer wieder folgt der gleiche Vorgang. Schicht für Schicht.
       Bis nackter Felsen zum Vorschein kommt.
       
       Es ist Tag drei der Ausgrabungen an diesem ersten Donnerstag im Dezember in
       einem leicht abschüssigen Waldstück ganz in Zyperns Norden unweit des
       Dorfes, das griechisch [1][Bellapais] und türkisch Beylerbeyi heißt. Noch
       haben die Forensiker Çulluoğlu und Co. nichts gefunden. Was sie beharrlich
       suchen: menschliche Überreste. Schädel, Knochen, Knochensplitter, auch noch
       so winzige. Aber auch Gegenstände: Ringe, Uhren, Kleidung, Schuhe. Ebenso
       Goldzähne. Sie suchen alles, was sie zu den Vermissten führen könnte.
       
       Ihre Spuren verlieren sich während der [2][türkischen Invasion Zyperns] im
       Sommer 1974, in dem die Insel, am Schnittpunkt von Orient und Okzident
       gelegen, schlagartig in das Interesse der Weltöffentlichkeit rückt.
       Türkische Truppen landen am 20. Juli 1974 im Norden der Insel. Die Türkei
       weitet ihre Invasion ab dem 14. August 1974 massiv aus. Das führt zur
       faktischen Teilung von Zypern. Sie dauert bis heute an. Nikosia ist die
       letzte geteilte Hauptstadt der Welt. Die Grenze verläuft mitten durch die
       Altstadt.
       
       „Wir graben hier bis zu einen Meter tief. Finden wir an dieser Stelle
       nichts, graben wir daneben weiter“, erklärt Çulluoğlu. Sein sechsköpfiges
       Team, drei griechische und drei türkische Zyprioten, ist vom CMP, dem
       [3][Committee on missing Persons in Cyprus] (Komitee für die Vermissten in
       Zypern). Die von CMP-Ermittlern gewonnene Information, wonach an dieser
       Stelle drei Vermisste, darunter zwei Zivilisten und ein Offizier, alle
       griechische Zyprioten, begraben sein sollen, sei von einem Augenzeugen,
       somit einer Topquelle. Çulluoğlu hebt die Augenbrauen. „Nur wenn der
       Hinweis stichhaltig ist, haben wir eine Chance, fündig zu werden.“
       
       Çulluoğlu weiß, wovon er redet. Er arbeitet schon lange für das CMP. Die
       Faustregel lautet: Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto schwieriger
       wird es für die Ermittler von CMP, fundierte Angaben darüber zu finden, was
       aus den Vermissten geworden ist, wo sie begraben liegen. Zeitzeugen
       sterben. Wer noch lebt, der kann sich kaum oder gar nicht mehr daran
       erinnern oder vertut sich, die richtige Stelle für eine Ausgrabung zu
       finden.
       
       Die Suche nach den Vermissten in Zypern betrifft ursprünglich genau 2.002
       Personen. So viele stehen auf der offiziellen Liste vom CMP, im Jahr 2006
       erstellt. 1.510 Fälle betreffen griechische, 492 Fälle türkische Zyprioten.
       Maßgeblich türkisch-zypriotische Zivilisten verschwinden bei heftigen
       Zusammenstößen zwischen beiden Volksgruppen. Sie nehmen am 21. Dezember
       1963, vor genau sechzig Jahren, in der Altstadt von Nikosia ihren Anfang.
       In den nächsten Tagen und Wochen heizen Radikale und Nationalisten beider
       Lager den Konflikt an. Bewaffnete griechische Zyprioten wollen die Enosis,
       die Vereinigung von Zypern mit Griechenland. Demgegenüber streben
       bewaffnete türkische Zyprioten die Teilung Zyperns an: Taksim. Die
       Extremisten prallen aufeinander.
       
       In ganz Zypern werden Bewohner getötet, verletzt – oder sie verschwinden.
       [4][Die Ereignisse ab dem 21. Dezember 1963] sind nach Lesart der
       griechischen Zyprioten ein „türkisch-zypriotischer Aufstand“. Die
       türkisch-zypriotische Seite nennt sie „blutige Weihnachten“. Sie gelten als
       Vorbote für die Zuspitzung im Zypernkonflikt im Sommer 1974, in dem das
       Gros der Vermissten auf der CMP-Liste verschwindet.
       
       Die Vermissten zu finden, ist ein ungeheuer zähes, mühsames, schwieriges
       Unterfangen. In fünf Phasen. Zuerst sichern die Ermittler von CMP
       ausreichende Informationen. Das ist die Phase eins. Dann treten die
       Archäologen in Aktion. Das ist die Phase zwei.
       
       Das CMP hat 1.583 Ausgrabungen seit dem Beginn seiner Tätigkeit im Jahr
       2006 durchgeführt, im Schnitt rund neunzig Ausgrabungen pro Jahr.
       Gegenwärtig laufen sechs Ausgrabungen. Fünf in Zyperns Norden, eine im
       Süden. Die größte befindet sich im Norden: In dem Dorf Atlilar (griechisch:
       Aloa) befindet sich ein Massengrab. Viele Knochen sind zu sehen, ein
       schauderhafter Anblick. 37 Personen aus dem Dorf gelten als vermisst, auch
       sie seit dem Sommer 1974. Alle sind türkisch-zypriotische Zivilisten.
       Frauen, Kinder, Alte.
       
       Bei bisher 351 Ausgrabungen, rund einem Viertel aller Ausgrabungen, fand
       das CMP menschliche Überreste von 1.223 Personen. 1.036 Individuen konnten
       identifiziert werden. Dabei handelt es sich um 743 griechische und 293
       türkische Zyprioten. 966 Personen der CMP-Liste gelten weiter als vermisst.
       Davon sind 767 Personen griechische und 199 türkische Zyprioten.
       
       Die Angehörigen der Vermissten leiden bis heute. Viele haben die Hoffnung
       nicht aufgegeben, dass ihre Liebsten noch am Leben sind. Mustafa Kemal
       Gökeri glaubt hingegen nicht, dass sein Vater noch lebt. „Er ist getötet
       worden“, ist sich Gökeri sicher. Was bleibt: dessen Überreste endlich zu
       finden. Seit fast sechzig Jahren wartet er nun schon darauf. Bisher
       vergeblich.
       
       Das Treffen mit ihm findet in Nord-Nikosia statt. Draußen regnet es in
       Strömen. Gökeri, ein schlanker, großgewachsener Mann, ist sechs Jahre alt,
       als sein Vater Cengiz Ratip am 14. Februar 1964 in ihrem Heimatort Ort
       Polis in Zyperns Südwesten verschwindet. Tür an Tür leben damals in Polis
       griechische und türkische Zyprioten. Sein Vater sei mit einem Freund im
       Auto gesessen, in einem nagelneuen, blauen Fiat. Plötzlich seien sie
       beschossen worden, wie Gökeri erzählt wird. Seither fehle von beiden jede
       Spur. Auch der Fiat wurde nie gefunden.
       
       Sein Vater, ein Abgeordneter in Zyperns Parlament, sei ein gemäßigter
       Politiker gewesen. „Er setzte sich für die Koexistenz der beiden
       Volksgruppen auf Zypern ein“, unterstreicht Gökeri. Dabei riskierte er auch
       sein eigenes Leben. Hohe Wellen schlägt seine mutige Tat, von Polis in den
       Ort Kokkina (türkisch: Erenköy) zu fahren, um einen Bus voller entführter
       griechischer Zyprioten zu retten. Cengiz Ratip gelingt es, die
       türkisch-zypriotischen Entführer dazu zu überreden, die Insassen
       freizulassen. Cengiz Ratip ist stets darum bemüht, während der Konflikte
       zwischen den beiden Volksgruppen die aufgeheizte Stimmung in Polis und
       anderswo wieder zu beruhigen. Auch an jenem 14. Februar 1964, als er
       beschossen wird und verschwindet. „Ich war zwar noch klein. Ich kann mich
       jedoch daran erinnern, dass meine Mutter ständig weinte“, sagt Gökeri.
       
       Groll, Wut oder gar Hass empfinde er nicht. Im Gegenteil. „Wir Zyprioten
       sollten daran arbeiten, dass so etwas nie wieder passiert, was meinem Vater
       zugestoßen ist.“ Sein größter Wunsch sei, dass die Überreste seines Vaters
       gefunden werden, bevor seine Mutter stirbt. „Sie ist 96 Jahre alt. Ich
       will, dass sie seine Überreste noch sieht und wir ihn angemessen bestatten
       können.“ Auch Nikos Sergidis wartet. Darauf, dass die Überreste seines
       jüngeren Bruders gefunden werden. Iosif Sergidis, geboren am 1. April 1953,
       beginnt seinen obligatorischen Wehrdienst in der zypriotischen
       Nationalgarde, der Ethniki Froura (EF), im Juli 1972. Im Juli 1974, nach 24
       Monaten, wäre sein Wehrdienst abgelaufen.
       
       Doch es kommt alles anders. Denn am 15. Juli 1974 putschen Offiziere der EF
       mit Unterstützung der griechischen Militärjunta in Athen gegen Zyperns
       Präsidenten, den Erzbischof Makarios III. Ziel des Putsches ist der
       Anschluss Zyperns an Griechenland, die Enosis. Dazu kommt es nicht. Denn
       fünf Tage später (am 20. Juli 1974) beginnt die Invasion der Türkei mit der
       Landung regulärer türkischer Truppen im Norden der Insel unter dem
       Decknamen Attila I. Schnell kontrollieren sie etwa drei Prozent der
       Inselfläche. Nach einer Waffenruhe nutzt die Türkei ab dem 14. August die
       Präsenz ihrer Truppen zu einer völkerrechtswidrigen Besetzung von Zyperns
       Norden. Das Gebiet Nordzyperns, das durch die Operation Attila II besetzt
       wird, macht 37 Prozent der Insel aus.
       
       Beide Seiten verüben Gräueltaten. Es gibt Vermisste. Und viele Vertriebene.
       Griechische Zyprioten, die mit insgesamt 506.000 Bewohnern 79 Prozent der
       Inselbevölkerung stellten, werden aus dem türkisch besetzten Teil Zyperns
       vertrieben oder flüchten in den Süden der Insel. Umgekehrt verlassen
       türkische Zyprioten, die mit insgesamt 118.000 Bewohnern 19 Prozent der
       Inselbevölkerung ausmachen, den Süden der Insel in Richtung Norden.
       
       Iosif Sergidis, Scheitel, Brille, kämpfte gegen die türkischen Invasoren.
       „Wir waren eine sehr verbundene Familie. Mit sieben Söhnen. Ich bin der
       zweitälteste, Iosif der fünfte“, sagt sein Bruder Nikos Sergidis. Er
       überreicht ein Schwarzweißfoto. Iosif sieht ihm verblüffend ähnlich. Nikos
       Sergidis sitzt im ersten Stock eines unscheinbaren Gebäudes in Süd-Nikosia
       in den Büros der Panzypriotischen Vereinigung der Angehörigen
       nichtgemeldeter Kriegsgefangener und Vermisster. Vor ihm liegt eine Akte
       mit braunem Deckblatt. Es ist die Personalakte seines vermissten Bruders.
       Aktennummer: 899.
       
       „Das letzte Mal habe ich meinen Bruder in der Waffenruhe Anfang August
       gesehen“, erinnert sich Nikos Sergidis. Dann sei Iosif Sergidis wieder an
       die Front im Norden gegangen. „Er war eine Hüne von Mann“, so Nikos
       Sergidis. Zum Verhängnis wird Iosif Sergidis der Kampf auf dem strategisch
       bedeutsamen Labatsa-Hügel im Nordwesten von Zypern zwischen den Dörfern
       Kontemenos (türkisch: Kiliçarslan) und Skylloura (türkisch: Yilmazköy).
       
       Der 21-Jährige leitet einen Zug aus zwei Dutzend Infanteristen. Der Kampf
       von Sergidis’ kleiner Einheit gegen die türkischen Invasoren beginnt am 15.
       August in der Mittagshitze um drei Uhr, er dauert zweieinhalb Stunden.
       Sergidis und seine Soldaten kämpfen tapfer, haben aber gegen die Übermacht
       der türkischen Truppen, die sie zudem mit der Luftwaffe beschießt, keine
       Chance.
       
       „Ich sah etwa 30 bis 35 tote Körper des Feindes herumliegen. Die Luft stank
       fürchterlich. Ich wollte ihre Gewehre einsammeln, aber einige meiner
       Soldaten mussten sich übergeben. Der Geruch war unerträglich. Sofort zog
       ich meine Soldaten zurück. Die Gewehre ließ ich bei den Leichen liegen. Als
       ich zu meinem Regiment zurückkehrte, befahl ich meinen Soldaten, ihre
       Kleidung zu verbrennen und ein Bad zu nehmen. Später informierte mich ein
       Oberstleutnant, dass sie die Waffen einsammeln und die Gegend bereinigen“,
       schreibt der damalige türkische Kommandeur Turan Erdem in seinen Memoiren.
       
       Das 1999 in Ankara auf Türkisch herausgegebene Buch hat Nikos Sergidis
       gefunden. „Das Gelände wurde vom CMP gründlich untersucht. Dabei fand man
       Knochensplitter. Etwa 300. Sie lagen verstreut herum. Ein bis zwei
       Zentimeter lang, der längste sechs Zentimeter. Dazu noch einen Zahn. CMP
       fand heraus, wem der Zahn gehörte. Der Zahn wurde der Familie übergeben.
       Die Beerdigung in einem Friedhof fand mit diesem Zahn statt“, sagt er. Sein
       Bruder Iosif bleibt vermisst, fast 50 Jahre nach dem Kampf auf dem
       Labatsa-Hügel. Dennoch sagt Nikos Sergidis mit fester Stimme: „Wir können
       mit den türkischen Zyprioten friedlich zusammenleben.“
       
       Die drei großen, braunen Pappkartons mit der Aufschrift „Labatsa Hill“
       stehen im obersten Fach eines Metallregals im Lagerraum des
       anthropologischen Labors des CMP. Es liegt in der [5][Schutzzone der
       UN-Friedenstruppe] auf dem weitläufigen Gelände des seit dem Sommer 1974
       verwaisten Flughafens in Nikosia. Erstmals seit Jahren erhält ein
       internationales Medium Zugang zum Labor. Was der seltene Einblick zeigt:
       Das Labor besteht aus zwei Räumen zur Aufbewahrung der exhumierten
       Überreste sowie aus zwei Bereichen für deren Analyse. Das ist die Phase
       drei.
       
       ## DNA-Analyse winziger Knochen
       
       Der Fall Labatsa-Hügel habe sie vor große Herausforderungen gestellt, räumt
       das Teamleiter-Duo aus der griechischen Zypriotin Theodora Eleftheriou und
       ihrer türkisch-zypriotischen Kollegin Engin Istenc gegenüber der taz ein.
       „Jeder Mensch hat 206 Knochen. Das CMP fand 2009 auf dem Labatsa-Hügel
       kleine bis winzige Knochensplitter. Sie passten gerade auf zwei Tische“,
       erinnert sich Theodorou. Es habe kein Grab gegeben. Das erschwere eine
       anthropologische Analyse sehr. „Liegen Knochen viele Jahre auf der
       Bodenoberfläche, verändert sich im Sonnenlicht ihre Farbe. Sie sind nicht
       mehr dunkelbraun bis schwarz, sondern weiß.“
       
       Die Aufgabe des Duos: die exhumierten Überreste analysieren, um die
       Identität einer vermissten Person festzustellen. Zwei bikommunale Teams
       unter Leitung von Eleftheriou und Istenc erstellen ein biologisches Profil
       der Person, einschließlich Geschlecht, Größe, Alter zum Zeitpunkt des Todes
       und anderer individueller Merkmale. Kleine Knochenproben werden entnommen
       und zur DNA-Analyse in die USA geschickt.
       
       „Das ist ein zerstörerischer Prozess. Der Knochen wird zu Puder zermahlen.
       Das geht verloren“, erklärt Istenc. Es bleibt keine andere Wahl. Diese
       Analysen führen zur Identifizierung vermisster Personen. Die Proben werden
       mit den genetischen Profilen der Verwandten der Vermissten abgeglichen.
       Eine [6][DNA-Identifizierung] gilt erst dann als erfolgreich, falls eine
       Übereinstimmung zu 99,95 Prozent erreicht oder überschritten wird.
       
       Die Ergebnisse werden an das CMP-Labor zurückgeschickt. Das Genetikerteam
       des CMP, bikommunal von der türkischen Zypriotin Gülbanu Zorba und ihrer
       griechisch-zypriotischen Kollegin Katerina Papaioannou geleitet, untersucht
       und bestätigt die Übereinstimmung. Das ist die Phase vier. Im Fall
       Labatsa-Hügel dauerte es zwölf Jahre, bis das CMP insgesamt 20 Personen
       zweifelsfrei identifizierte. Vier Personen bleiben vermisst. Darunter ist
       Iosif Sergidis.
       
       Für Leonidas Pantelidis ein Ansporn, so lange nicht locker zu lassen, bis
       die Überreste der übrigen 966 Vermissten der CMP-Liste gefunden werden.
       Seit Mitte 2019 ist er das von der Republik Zypern entsandte
       griechisch-zypriotische Mitglied im CMP. Pantelidis war in Washington und
       Moskau Zyperns Botschafter. Ein Top-Diplomat.
       
       Er empfängt in seinem Büro in einem Regierungsgebäude im Süden von Nikosia.
       „Ich erhielt einen Anruf vom damaligen Staatspräsidenten Nikos
       Anastasiadis. Er bat mich, den vakanten Posten zu übernehmen. Um ehrlich zu
       sein, ich habe ihn um Bedenkzeit gebeten. Ich wusste, dass dies eine
       unglaublich schwierige Aufgabe ist. Ich entschied: Das ist etwas
       Einzigartiges. Ich mache das!“
       
       Sein türkisch-zypriotisches Pendant ist Hakki Müftüzade, auch ein früherer
       Diplomat. Den Besucher empfängt er in seinem Büro in Nord-Nikosia. Er
       lässt türkischen Tee servieren. „Mit Leonidas verstehe ich mich blendend“,
       wie Hakki Müftüzade betont.
       
       Beide, Pantelidis und Müftüzade, blicken nicht in die Vergangenheit. Sie
       wollen die Überreste der Vermissten finden. Unerheblich sei es, welcher
       Volksgruppe sie angehören, wie sie unisono betonen. Egal sei ebenso, ob sie
       bei den gewalttätigen Ereignissen 1963, 1964 oder 1974 verschwunden seien.
       Ihr Ziel: Angaben über den Verbleib der Vermissten einholen, die Überreste
       suchen, analysieren, identifizieren. Alles gemeinsam.
       
       Das CMP ist ein Hort der Versöhnung beider Volksgruppen. Mit
       Vorbildfunktion. Ob Eleftheriou, Istenc, Zorba, Papaioannou oder das übrige
       CMP-Personal: Sie gingen je nach Volksgruppe in getrennte Schulen, kamen
       nie in Berührung, obgleich sie auf der gleichen Insel leben. Im CMP lernte
       man sich kennen, schmiedete Freundschaften. Ein junges, ambitioniertes
       Team. Ihre gemeinsame Sprache im Job und nach Feierabend: Englisch. Gülbanu
       Zorba sagt: „Wenn Katerina erkrankt, leide ich mit ihr. Umgekehrt genauso.“
       Katerina Papaioannou nickt lächelnd.
       
       Für den Forensiker Mete Tosun, einen türkischen Zyprioten, bot die Arbeit
       im CMP eine ganz persönliche Erfahrung. Tosun fand 2014 bei einer
       Ausgrabung einen goldenen Zahn. Er führt zu Fahri Totkuy, den Mann seiner
       Tante, wie er enthüllt. Totkuy, ein Gemüsehändler, war seit 1963 vermisst.
       „Er wurde auf der Straße entführt.“ Dass ausgerechnet er seine Überreste
       fand, habe ihn „ziemlich aufgewühlt“. „Ich versuche, professionell damit
       umzugehen“, sagt Mete Tosun der taz auf dem Areal der Ausgrabung in
       Bellapais/Beylerbeyi. Man sieht, dass er hier mit der gleichen Hingabe die
       Überreste griechischer Zyprioten sucht.
       
       Den bikommunalen Charakter des CMP zu betonen, liegt auch Bruce Koepke am
       Herzen. Der Deutschaustralier ist das, wie es heißt, „dritte Mitglied“ im
       CMP. Seit 19 Jahren arbeitet Koepke für die UNO, stets in Konfliktzonen. Er
       war in Afghanistan, im Irak, im Jemen. „Meine Aufgabe ist es, beide Seiten
       zu ermutigen, die fruchtbare Kooperation fortzusetzen“, sagt er im
       CMP-Gebäude des UNO-Mitglieds in der „Grünen Linie“ in Nikosia, der
       UNO-Pufferzone unter Verwaltung der UN-Friedenstruppen.
       
       „Das CMP lebt vom Konsens aller drei Seiten – der griechisch-zypriotischen,
       der türkisch-zypriotischen und der UNO“, so Koepke. Dem CMP gehe es bewusst
       nicht um eine historische Aufarbeitung der Geschehnisse. „Die Arbeit des
       Komitees hat laut CMP-Mandat einen zutiefst humanitären Charakter“, so
       Koepke.
       
       Das würdigt die Staatengemeinschaft. Die EU hat dem CMP seit 2006 knapp 36
       Millionen Euro gespendet, allein 2,6 Millionen Euro in diesem Jahr. Gut 10
       Millionen Euro steuerten ferner 19 Staaten bei, darunter auch Deutschland.
       Ebenso helfen Privatspender. Das CMP-Budget beträgt in diesem Jahr 3,2
       Millionen Euro. Etwa die Hälfte der Ausgaben betreffen Ausgrabungen und
       Exhumierungen.
       
       Was Koepke im Gespräch mit der taz umtreibt: „Unsere Kosten steigen. Der
       Treibstoff, das Material, das Mieten von Baumaschinen und anderen
       Fahrzeugen, die DNA-Analysen, der gesamte Aufwand. Viele Stellen, wo
       Vermisste vermutet werden, sind mittlerweile zugebaut und müssen nach einer
       Ausgrabung restauriert werden. Die Kompensationskosten verteuern die
       Ausgrabungen immens.“ Fest steht: Das Knowhow des CMP ist gefragt.
       Spezialisten aus aller Welt, die Vermisste in ihren Ländern suchen, kommen
       nach Zypern. Gerade sind Experten aus Aserbaidschan im CMP-Labor, eine
       Delegation aus Irland hat sich angekündigt.
       
       ## Rückgabe an Angehörige
       
       Der Höhepunkt der Arbeit des CMP ist die Rückgabe der Überreste an die
       Angehörigen. Das ist die Phase fünf. Das geht so: Betroffene
       Familienangehörige werden in den sogenannten Viewing Room des CMP
       eingeladen. Dort treffen sie die an der Identifizierung beteiligten
       CMP-Wissenschaftler in einem eigens dafür vorgesehenen Raum. Per
       Powerpoint-Präsentation erhalten sie einen Einblick in den Prozess von der
       Phase eins bis vier. Auf einem Tisch befinden sich die sterblichen
       Überreste ihrer Angehörigen, auf einem kleineren Tisch dahinter ist ein
       großes Foto von ihm oder ihr aufgestellt. Psychologen vom CMP helfen bei
       den Vorbereitungen für die Beerdigung. Wünscht es die Familie, bieten sie
       ihre Hilfe bis zu zwei Jahre nach der Beerdigung an.
       
       Angela Ioannou, eine griechische Zypriotin mit einer einfühlsamen Stimme,
       hat schon viele Rückgaben der Überreste mitverantwortet. Im
       [7][CMP-Viewing-Room] beschreibt sie der taz die hoch emotionalen Szenen,
       die sich hier abspielen. „Jede Familie ist anders. Manche weinen. Andere
       sind stumm. Es ist in diesem Moment für sie so, als ob ihr Angehöriger erst
       gestern verstorben ist.“
       
       Der Wunsch einer älteren Dame habe sie sehr gerührt, offenbart Angela
       Ioannou. Ihr Sohn, ein Soldat der Zypriotischen Nationalgarde, verschwindet
       im Sommer 1974. „Sie hatte einen Anzug mit dabei. Eine schwarze Hose, ein
       schwarzes Sakko und ein weißes Hemd. Sie sagte mir: ‚Angela, ich habe auf
       ihn gewartet. Jetzt ist mein Sohn da‘. Sie sagte mir dann: ‚Ich habe seinen
       Anzug aufbewahrt. Jetzt ist der Moment, wo er ihn anhaben soll.‘“
       
       21 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Bellapais_(Abtei)
   DIR [2] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32116/historische-hintergruende-des-zypernkonflikts/
   DIR [3] https://www.cmp-cyprus.org/
   DIR [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Blutige_Weihnachten_(1963)
   DIR [5] /Angriff-auf-UN-Friedensmission-in-Zypern/!5954571
   DIR [6] /Umgang-mit-menschlichen-Ueberresten/!5956616
   DIR [7] https://www.cmp-cyprus.org/pictures/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ferry Batzoglou
       
       ## TAGS
       
   DIR Zypern
   DIR Türkei
   DIR DNA
   DIR Griechenland
   DIR Dialog
   DIR GNS
   DIR Zypern
   DIR Zypern
   DIR Griechenland
   DIR Zypern
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Zypern
   DIR Migration
   DIR Zypern
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Eintritt in Verteidigungsbündnis: Zypern will in die Nato
       
       Mitglied der EU und der Eurozone ist die Republik Zypern schon, aber nicht
       in der Nato. Nun will sie dem Nordatlantikpakt beitreten. Die Türkei ist
       dagegen.
       
   DIR 50 Jahre Zypern-Teilung: Eine Insel, keine Lösung
       
       Nach einer türkischen Offensive am 20. Juli 1974 wird Zypern zweigeteilt.
       Bis heute bestimmt die Trennung den Alltag der Menschen.
       
   DIR Griechenland nach der Finanzkrise: Kampf ums blaue Gold
       
       Die EU investierte Hunderte von Milliarden Euro in die griechische
       Wirtschaft. Mittlerweile erholt sie sich. Doch davon profitieren nicht alle
       gleich.
       
   DIR Griechen und Türken auf Zypern: „Pyla ist nicht Palästina“
       
       Im letzten Sommer sorgte ein Straßenstreit auf Zypern für weltweites
       Aufsehen. Manche befürchteten einen neuen Krieg. Wie sieht es dort heute
       aus?
       
   DIR Geflüchtet und gestrandet auf Zypern: In der Sackgasse
       
       Muhammed kam aus Syrien nach Zypern. Im Lager wartet er auf Anerkennung als
       Flüchtling. Doch Zypern ist nicht im Schengenraum. Mitteleuropa? Wohl
       unerreichbar.
       
   DIR Klimawandel und Feiertage: Nie wieder weiße Weihnachten?
       
       Die Wahrscheinlichkeit für Schneefall an Weihnachten hat abgenommen, sagt
       der Deutsche Wetterdienst. Besonders der Süden ist betroffen.
       
   DIR Evakuierung über Zypern: Bundeswehr reduziert Spezialtruppe
       
       Spezialkräfte sollten deutsche Staatsangehörige im Notfall schnell aus dem
       Nahen Osten evakuieren können. Jetzt wird die Truppe reduziert.
       
   DIR Rechte Gewalt auf Zypern: Rechtsradikale greifen Migranten an
       
       Rund 200 Neonazis verwüsten ein Viertel in der Hafenstadt Limassol.
       Präsident Christodoulides drückt seine Scham über das Versagen der Polizei
       aus.
       
   DIR Angriff auf UN-Friedensmission in Zypern: Bulldozer in der Pufferzone
       
       Ein Straßenbauprojekt in Pyla, wo noch griechische und türkische Zyprioten
       zusammenleben, führte zu Gewalt gegen die UN-Friedensmission.