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       # taz.de -- Schach-Weltverband in der Kritik: Kinderkirmes und Krieg
       
       > Der Verbandspräsident ermöglicht eine unwürdige Punktejagd auf dem Weg
       > zum WM-Titel im Schach. Ein Putin-Pudel ist der Russe obendrein.
       
   IMG Bild: Auftritt Präsident: FIDE-Chef Arkadi Dworkowitsch auf der WM-Bühne in Kasachstan
       
       Hartnäckig hält sich das Gerücht, Schach sei ein distinguierter Sport unter
       ehrbaren Menschen. Wenn in einer Serie zwei Figuren in ein ernsthaftes,
       weitreichendes Gespräch über weltliche Dinge zu führen beabsichtigen,
       finden sie sich gerne mal an einem Brett ein und drehen Figuren zwischen
       Zeigefinger und Daumen. In der tatsächlichen Schachwelt hingegen [1][geht
       es aktuell zu wie auf einer Kinderkirmes].
       
       Das liegt am Weltverband FIDE. Nächstes Jahr findet das Kandidatenturnier
       statt, in dem ermittelt wird, wer als Nächstes gegen den amtierenden
       Champion Ding Liren um den WM-Titel spielt. Acht Plätze stehen dazu zur
       Verfügung. Sechs davon sind schon vergeben, um die letzten beiden streiten
       sich gerade noch eine Handvoll Spieler, indem sie sich gegenseitig in die
       Nasen zwicken.
       
       Einer der beiden offenen Startplätze wird über den Weltranglistenrang
       vergeben. Grundlage für die Platzierung ist die ELO, eine Kennzahl für die
       Spielstärke. Die längste Zeit des Jahres schien klar, dass dieser Platz an
       Alireza Firouzja gehen würde, bis dieser sich zum Jahresende einen üblen
       Hänger erlaubte und einiges an Rating-Punkten einbüßte. Anfang Dezember
       schien dieser Spot wieder vakant, und lange sah es so aus, als könnte
       Wesley So das Rennen machen.
       
       Doch wie aus dem Nichts entstanden plötzlich auf der ganzen Welt Turniere,
       die es diesem oder jenem Spieler erlauben sollten, noch mal Punkte
       zusammenzukratzen. Und so kam es, dass Alireza Firouzja in seinem
       Heimatverein Chartres zu acht Showmatches gegen alternde Großmeister
       antritt, zu deren besten Jahren die Mauer noch stand, um aus ihnen noch den
       ein oder anderen Punkt herauszumelken, als wären es Blattläuse.
       
       Der zweite noch offene Spot wird über den sogenannten FIDE-Circuit
       vergeben, in dem die besten Turnierergebnisse des Jahres gewertet und
       zusammengezählt werden. Aktuell liegt hier hauchdünn Anish Giri in Führung.
       Das aber kann sich noch ändern, nachdem der indische Schachverband für zwei
       seiner Spieler noch ein Master in Chenai aus dem Boden gestampft hat.
       
       Allerdings ist dieses Turnier tatsächlich stark besetzt und kein reines
       Schaulaufen, wie es Firouzja gerade absolviert. Es war in den vergangenen
       Wochen jedenfalls fast interessanter zu verfolgen, wer noch in irgendeiner
       Mehrzweckhalle oder Hotellobby ein paar Bretter aufgestellt bekam, als die
       Turniere an sich.
       
       ## Schach als Propagandawerkzeug
       
       Zu verantworten hat diesen ganzen Zirkus die FIDE, die offenbar Besseres zu
       tun hat, als sich um Schach zu kümmern. Ihr russischer Präsident Arkadi
       Dworkowitsch hat just in diesem Monat eine Satzungsänderung durchgedrückt,
       mit der die bisherige Maximaldauer von zwei Amtszeiten aufgehoben wurde;
       jetzt kann er theoretisch lebenslang gewählt werden.
       
       Das freut insbesondere die russische Politik: Dworkowitsch hat als
       ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident beste Verbindungen, und
       Schach ist [2][ein wichtiger sportpolitischer Propagandahebel] für das
       Regime. Sergej Karjakin, neben [3][Ian Nepomniaschtschi] bester russischer
       Spieler, nutzt seine Popularität, um fortwährend den Überfall auf die
       Ukraine zu rechtfertigen und seine Treue zu Putin zu demonstrieren.
       
       Im Sommer begrüßte Dworkowitsch zum internationalen Schachtag Dmitri
       Peskow, Putins Pressesprecher, der ebenso wie Verteidigungsminister Sergei
       Schoigu dem Kuratorium des russischen Schachverbands angehört. Russische
       Mannschaften treten bei internationalen Wettkämpfen bisweilen wieder unter
       russischer Flagge auf, obwohl man das verboten hatte. Und bei einem
       russischen Team-Cup traten Mannschaften aus den annektierten ukrainischen
       Gebieten Luhansk, Donetsk und Kherson an.
       
       Protest dagegen kommt nur vereinzelt auf. Zum Beispiel von Levon Aronian,
       der sagte, die jüngsten Entscheidungen würden „die FIDE zerstören“. Das
       wäre nicht das Schlechteste.
       
       21 Dec 2023
       
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