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       # taz.de -- Künstler über Ästhetik als empowerment: „Auf Augenhöhe begegnen“
       
       > Der Hamburger Künstler Günter Westphal hat mit dem Werkhaus einen Ort für
       > junge Obdachlose geschaffen. Ein Gespräch über freie Zeit und
       > Selbstfindung.
       
       taz: Sie haben das Hamburger Münzviertel ein gallisches Dorf genannt. Was
       ist gallisch daran, Herr Westphal? 
       
       Günter Westphal: Wir sind dieser kleine Ort unterhalb des Hauptbahnhofes,
       der für eine partizipative Stadtentwicklung kämpft. Partizipation heißt für
       mich, gemeinwohlorientiert auf Augenhöhe mit allen Beteiligten zu planen
       und zu gestalten. Politiker*innen, Stadtentwickler*innen haben alle
       ein unterschiedliches Expertenwissen, wir haben eines über das
       nachbarschaftliche Miteinander – und das ist gleichberechtigt.
       
       Wer wären Sie selbst im gallischen Dorf – Miraculix?
       
       Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht … Wir sind eine Gemeinschaft.
       Ich habe die Stadtteilinitiative mit anderen Münzviertler*innen vor 20
       Jahren gegründet und vor zehn Jahren das Werkhaus, eine Tagesstätte für
       junge obdachlose Menschen. Und diese Aktivitäten dann bewusst
       durchgehalten. Es ist mein Lebenselixier, künstlerische Kriterien mit den
       Menschen vor Ort in die Stadtplanung mit einzubringen.
       
       Was bedeutet das „bewusst durchgehalten“? 
       
       Wenn verschiedene Leute miteinander arbeiten, kann man von den anderen
       enttäuscht werden, weil sie etwas nicht oder nicht so wie gedacht machen.
       Aber ich habe für mich eben entschieden, das zu machen. Somit bin ich nur
       mir selbst gegenüber verantwortlich und kann von den anderen keine
       Verantwortung einfordern.
       
       Was für Leute leben im Münzviertel? 
       
       Ganz unterschiedliche: Studierende, Obdachlose und linke Aktivist*innen.
       Unser Hauptmerkmal ist, dass wir der Hinterhof des Hauptbahnhofs sind, wir
       haben hier ganz viele soziale Einrichtungen, die man auf der anderen Seite
       des Bahnhofs nicht haben möchte. Dann haben wir das [1][„Viertelzimmer“]
       und den „Münzgarten“, wo wir uns als Nachbar*innen treffen. Und seit
       etwa zehn Jahren wird das Viertel von einer übergroßen Zahl von
       grobklotzigen Hotelneubauten bedrängt.
       
       Nach zehn Jahren Werkhaus: Was ist gelungen und was gescheitert? 
       
       Am Werkhaus ist nichts gescheitert. Es ist ein Identität stiftendes
       Spiegelbild für unsere gemeinwesenorientierten Stadtteilaktivitäten. Mit
       dem Werkhaus haben wir Räume geschaffen, in denen wir uns mit den
       Werkhäusler:innen auf Augenhöhe begegnen.
       
       Wie kann man sich das praktisch vorstellen? 
       
       Wir haben Personal, das versucht, neben sozialpädagogischer Beratung den
       Tag zu strukturieren – gemeinsames Frühstücken, Mittagessen –, und es gibt
       Künstler:innen, die sechs Monate hier sind und sich in der Schnittstelle
       von Kunst und Sozialem ausprobieren. Und wir haben Werkstätten, wo die
       Werkhäusler:innen spüren können, ob sie gut mit Holz umgehen können
       oder mit Fahrrädern oder etwas anderem.
       
       Sie haben mal geschrieben: „Es geht um Widerstand gegen die Objektivierung
       des einzelnen durch andere“. Ist das eine Sprache, die die Teilnehmenden
       erreicht? 
       
       Die Werkhäusler:innen kommen nicht her, um Künstler zu werden, sondern
       sie werden berührt von Kunst und nehmen sich selbst als individuelles
       Subjekt wahr. Bei jedem Menschen, und das ist für mich das Arbeitsfeld von
       Kunst, entsteht über die sinnliche Empfindung und unmittelbare Wahrnehmung
       des anderen überhaupt erst das Bewusstsein vom eigenen Ich, aber
       partizipativ auch vom anderen.
       
       Ist das nicht ein sehr idealistisches Konzept? 
       
       Ich bin jetzt 81 und ich habe nie geglaubt, dass wir nach der NS-Zeit
       wieder so viele Katastrophen erleben müssen. Deswegen hängt das große Foto
       dort als Mahnung …
       
       Es zeigt zwei jüdische Lehrerinnen, die an der Volksschule für Mädchen
       unterrichtet haben, da, wo heute das Werkhaus ist. Sie wurden von den Nazis
       ermordet. 
       
       Sie bewachen unser Tun.
       
       Was, glauben Sie, liegt in der Ästhetik, das sich dem entgegenstemmt? 
       
       Ästhetik und Ethik sind verschwistert.
       
       Könnten Sie diese Verbindung noch einmal erklären? 
       
       Bleiben wir bei der Rose, auch wenn das ein Klischee ist. Es ist eine
       Entscheidung zu urteilen, ob sie schön oder hässlich ist. In dem Moment, wo
       ich auf etwas reagiere und entscheide, ob empathisch oder abweisend, die
       Natur bewahre oder ausbeute, dann ist das Ethik. Wenn ich dann aktiv werde
       und etwas gestalte wie beim Fotografieren oder Bildermalen die Natur
       pflege, bin ich bei der Ästhetik. Stets kommt der erste Impuls zu reagieren
       und zu entscheiden über das sinnliche Empfinden und unmittelbare
       Wahrnehmen.
       
       Wenn junge Leute hierherkommen, haben sie das Gefühl, dass Tischlerei sie
       für die Zukunft rüstet? 
       
       Hier wird es ein bisschen kompliziert, wir haben ein großes inhaltliches
       Problem: Die Werkhäusler:innen entscheiden selbst, wann sie zu uns
       kommen und wie lange sie bleiben. Denn das Hauptziel des Werkhauses ist es,
       den Werkhäusler*innen eine ungebundene Zeit ohne administrativ
       vorgegebenen Zeittakt zur eigenen Selbstfindung, vielleicht zum
       Tischlerberuf einzuräumen. Wir werden über die Sozialbehörde finanziert –
       da gibt es den Begriff der ungebundenen Zeit nicht. Dort heißt es, ist
       jemand eine, zwei Stunden oder Tage hier, je nachdem gilt eine andere
       Kategorie der Finanzierung. Deswegen versuche ich und hoffe über die
       Kulturbehörde eine Finanzierung zu erreichen: für den auf den Menschen
       bezogenen Kunstbegriff der ungebundenen Zeit.
       
       Wie sind Ihre Erfahrungen mit der Kulturbehörde? 
       
       Vor einem Jahr habe ich mit dem Werkhaus [2][im alten
       Karstadt-Sport-Gebäude] im Rahmen von Kunst im öffentlichen Raum den
       „werkhaus 2.0“-Info-Kiosk betrieben. In dessen Nachfolge haben wir
       versucht, für 2024 dort ein Reallabor „Herberge für obdachlose Menschen“
       einzurichten: eine Anlaufstelle für obdachlose Menschen, die sich im Keller
       hätten duschen können und im Haus mit einbringen. Aber das hat man
       abgelehnt.
       
       Wer ist „man“? 
       
       Die Kreativgesellschaft, die zur Kulturbehörde gehört. Der Wunsch, dass die
       Obdachlosen raus sollen aus der benachbarten Mönckebergstraße, weil sie den
       Konsum stören, ist in der Kreativgesellschaft tief verankert. Dort, wo wir
       das Reallabor einrichten wollten, ist jetzt eine Kaffeerösterei.
       
       Sie haben nach Ihrem Kunststudium den Schritt in eine andere Welt getan und
       in der Altenhilfe gearbeitet. Wie kam es dazu? 
       
       Für mich als 68er war es nach dem Studium selbstverständlich, dass ich in
       den sozialen Bereich gehe, aber immer als Künstler. Im Pflegeheim habe ich
       als Beschäftigungstherapeut gearbeitet, es war die Zeit, in der die
       Heimbeiräte eingeführt worden. Das hat mich interessiert und ich habe dann
       dort fast zehn Jahre gearbeitet.
       
       Was konnten Sie dort praktisch tun? 
       
       Ich habe mit den Heimbewohner:innen Körbe geflochten, gemeinsam
       fotografiert und Ausflüge unternommen, immer dicht am Menschen dran. Und
       ich habe eine kritische Foto-Buch-Reportage über das Pflegeheim und die
       Heimbeiräte gemacht, die als Hilfspolizei mit einer Zigarre bei Kaffee und
       Kuchen abgespeist wurden und aufpassen sollten, dass die anderen
       Bewohner:innen nicht so viel trinken.
       
       Wie nahe sind sich Fotografie und soziale Arbeit? 
       
       Als gelernter Fotograf geht es mir stets um ein Erschauen, Erspüren und
       Umwerben der Gegenstände, die ich fotografieren möchte, um diese damit ins
       bestmögliche Licht rücken zu können.
       
       Sie grenzen Ihr Projekt deutlich von der elitären Hochkultur ab – so
       deutlich, dass man sich fragt, woher die Tiefe der Abneigung kommt. 
       
       Das liegt an der Ökonomisierung von Kunst und diesem sehr bürgerlichen
       Kunstverständnis, wo ein Museum wie eine Kathedrale ist, in die man die
       einfachen Leute möglichst nicht reinlässt. Meine Kunst versteht sich immer
       als ein Arbeiten mit den Menschen.
       
       Ich stelle es mir nicht einfach vor, all das als Gründer irgendwann auch
       loszulassen. 
       
       Ich bin jetzt in der Situation. Irgendwann ist es die Sache der Jungen und
       nicht mehr meine. Da sind fantastische Leute, die das auf ihre Art
       fortführen werden.
       
       7 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.viertelzimmer.net/
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   DIR Friederike Gräff
       
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