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       # taz.de -- Roman über Islamismus: Grenzen des Verstehens
       
       > Ein Vater versucht nachvollziehen, warum seine Tochter Dschihadistin
       > wurde. Sherko Fatahs Roman „Der große Wunsch“ ist wie ein Thriller
       > erzählt.
       
   IMG Bild: Der Autor Sherko Fatah
       
       Es ist schwer zu begreifen, welchen Weg die abwesende Hauptfigur dieses
       Romans einschlägt: Naima ist gerade 20 Jahre alt, sie führt ein freies
       Leben in Berlin, hat tolerante Eltern, ein ganzes Leben vor sich, wie man
       denken könnte. Doch sie verschwindet von einem auf den anderen Tag, soll
       sich dem IS in Syrien angeschlossen haben. Dort folgt sie den Gesetzen der
       Scharia, unterstützt ihre neuen Glaubensbrüder und -schwestern im Kampf
       gegen den Westen.
       
       Der eigentliche und anwesende Protagonist [1][des Romans „Der große Wunsch“
       von Sherko Fatah] ist Murat. Er ist der Vater von Naima. Murat reist von
       seiner Heimat Berlin aus ins türkisch-syrische Grenzgebiet, um seine
       Tochter zu finden. Er heuert Mittelsmänner an, die nach ihr suchen sollen.
       Von ihnen bekommt er Sprachnachrichten zugespielt, die von Naima stammen
       sollen. Auch sein alter Freund Aziz soll ihm helfen. Naimas Mutter Dorothee
       und er leben nicht mehr zusammen, doch das Verschwinden der Tochter bringt
       sie wieder näher zueinander.
       
       „Der große Wunsch“ ist wie ein Thriller erzählt. Murat weiß nie, welche
       Informationen über Naima vertrauenswürdig sind, auch Aziz scheint nur die
       halbe Wahrheit zu sagen. Im Kern aber ist Sherko Fatahs jüngstes Werk eine
       Auseinandersetzung und Reflexion über die Ideologie des Islamismus. Murat
       sinniert auf seiner Reise, die ihn schließlich über die südosttürkische
       Stadt Şanlıurfa nach Rakka führt, darüber, was jemanden dazu bringen
       könnte, sich einer islamistischen Terrorgruppe anzuschließen. „Es gibt eine
       Wildnis, […] in der sich Glauben in etwas Blutrünstiges verwandelt“, denkt
       Murat einmal. Diese Wildnis ist Thema des Buchs.
       
       Murat kann sich einer Antwort auf seine große Frage nur annähern. „All
       diese Migranten, die mit großen Träumen aufbrachen, Träumen, die heutzutage
       inspiriert wurden von all den Handybildern und -filmchen, von Gerüchten
       innerhalb ihrer vielköpfigen, weitverzweigten, oft schon weltweit
       zerstreuten Familien und Freundesfamilien, kamen nach Europa und fanden
       neben der sozialen Absicherung und Frieden auch funktionierende Staaten
       vor, in denen sie allerdings zumeist Außenseiter blieben“, denkt Murat in
       einer Passage und reflektiert kurz darauf über die Probleme der zweiten
       Einwanderergeneration. Und weiß natürlich, dass bloßer sozialer Ausschluss
       nicht erklären kann, wie man zum Dschihadisten werden kann.
       
       ## Schwer zu ertragen
       
       Um zu begreifen, studiert er auch die moralische Verkommenheit der
       Islamisten wie ein Investigativjournalist: „Es dauerte eine Weile, bis er
       bei den Hinrichtungen angekommen war. […] Diese langwierige Inszenierung
       war schwer zu ertragen. […] Die schließliche Tötung der Gefangenen, die bis
       dahin durch ihr Kauern am Boden, ihre gesenkten Blicke und ihre
       angsterfüllte Apathie bereits eine Entmenschlichung erfahren hatten,
       überstieg in ihrer Grausamkeit genau genommen nichts, was nicht längst in
       Filmen und Serien tagtäglich zu sehen war. Der Unterschied lag natürlich in
       der Wahrhaftigkeit dieser Bilder.“
       
       Murat skizziert die völlige Verrohung, ist fassungslos, wie die Mordvideos
       zu Trophäen in sozialen Medien werden können. Inwieweit sind deren
       Mechanismen Teil des Problems?
       
       Der Schriftsteller Sherko Fatah wurde als Sohn eines irakischen Kurden und
       einer Deutschen im damaligen Ostberlin geboren, er ist heute 59 Jahre alt.
       Mit den Regionen Türkei, Iran und Irak hat er sich bereits in mehreren
       Büchern befasst, auch die Genese von Gewalt ist ein wiederkehrendes Thema.
       In „Das dunkle Schiff“ (2008), das für den [2][Preis der Leipziger
       Buchmesse] nominiert war, erzählte er die Geschichte eines jungen Irakers,
       der nach dem Mord an seinem Vater gezwungen wird, sich Dschihadisten
       anzuschließen.
       
       „Der große Wunsch“ wurde selbstverständlich vor den aktuellen Ereignissen
       im Nahen Osten geschrieben. Durch sie ist der Roman von einer traurigen
       neuen Aktualität eingeholt worden. Das, was die Terroristen der Hamas am 7.
       Oktober taten, taten sie im Geiste und Sinne des IS, die Grausamkeit
       erinnerte an die Taten des IS in Syrien und im Irak. Ein Wiedererstarken
       der islamistischen Szene in Europa ist wieder wahrscheinlicher geworden –
       auch wenn der IS natürlich nie weg war. Über 1.150 Menschen sind laut
       Verfassungsschutz seit 2011 aus Deutschland nach Syrien gegangen, 27.480
       Gefährder:innen zählte man im Land 2022.
       
       Seinen Titel hat dieses Buch, weil der Name Murat so viel wie „Wunsch“
       heißt. Der große Wunsch des Protagonisten ist es natürlich, dass seine
       Tochter zurückkehrt, und ebenso wünscht er sich, [3][das Phänomen
       Islamismus im Westen zu verstehen]. Was Letzteres angeht, muss Murat in
       Teilen scheitern. Aber es ist ein Scheitern der lehrreicheren Sorte.
       
       9 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
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