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       # taz.de -- Bewegungstermine in Berlin: Es geht wieder los
       
       > Das neue Jahr wird vermutlich starten wie schon 2023: mit einer
       > rassistischen Silvesterdebatte. Was tun gegen die gesellschaftliche
       > Verrohung?
       
   IMG Bild: Silvester und Riots: The same procedure as every year?
       
       Der Beginn eines neuen Jahres ist für viele Menschen ja mit allerlei
       Hoffnungen verbunden. Manche wollen mehr Sport machen, gesünder essen oder
       weniger Alkohol trinken. Andere hoffen dagegen auf politische Dinge: zum
       Beispiel, dass die voranschreitende Faschisierung der bürgerlichen
       Gesellschaft doch noch irgendwie gestoppt werden kann.
       
       Doch mit den gesellschaftlichen Wünschen ist es wie mit den privaten: Wer
       nichts für ihre Erfüllung tut, dem sterben sie schnell dahin. So dürften
       ohne Gegenwehr schon die ersten Januarwochen dem Traum nach einem Ende der
       bürgerlichen Verrohung den Garaus machen. Denn nicht nur glühen, wie in
       jedem Jahr, Tausende Jugendliche nur so vor Vorfreude auf die
       silvesterliche Ballerei, auch die Fraktion zur Verteidigung der deutschen
       Ordnung zappelt bereits auf ihren Stühlen und bereitet eifrig die nächste
       rassistische Silvesterdebatte vor.
       
       Dass es zu einer neuen Empörungswelle kommt, davon kann ausgegangen werden
       – großteils unabhängig davon, wie stark sich der aufgestaute Frust der
       Jugendlichen tatsächlich wieder in Krawallen entladen wird. Die gezielt
       gestreuten Stellungnahmen von Polizei und Politik und das dankbare
       Aufgreifen derselben durch bürgerliche Medien lassen kaum zweifeln: Die
       sich nach rechts radikalisierende Mitte wird sich die rassistische
       Silvesterdebatte nicht nehmen lassen. Sie wird insgeheim dankbar sein, wenn
       es tatsächlich heftig knallt – und mit dem arbeiten, was da ist, wenn es
       doch nicht so schlimm kommt.
       
       Jugendkrawalle hat es natürlich [1][schon immer gegeben]. Forscher glauben,
       sie könnten früher sogar [2][heftiger gewesen sein als heute]. Es wird sie
       auch weiterhin geben, solange Jugendliche aus migrantischen und armen
       Verhältnissen in vielschichtiger Gewalt aufwachsen. Die Realität der
       Klassengesellschaft sollte man anerkennen, was übrigens auch geht, ohne
       Attacken auf Rettungskräfte zu entschuldigen oder die Verwüstung der
       eigenen Kieze für eine schlaue Handlung zu halten.
       
       Die Inszenierung einer Empörung 
       
       Damit die Jugendlichen auch nicht enttäuschen, wurden eine Reihe von
       Maßnahmen getroffen. Bevorzugt migrantische Kieze wurden zu
       Böllerverbotszonen erklärt, negativ auffallenden Jugendlichen wurde
       gedroht, sie über Silvester präventiv einzusperren. 2.800
       Polizist:innen werden die vorab zu Problemzonen definierten Kieze
       belagern und dabei so auftreten, dass die Zahl der dort Verhafteten
       ausreicht, um diesen Fokus nachträglich zu legitimieren.
       
       Die rechte Presse wird diese Statistiken dann dankend aufgreifen. Die
       Liveticker sind bereits geschaltet, alle Vorbereitungen für das
       Medienspektakel Silvesterriots wurden getroffen. Dass offizielle Stellen
       nun im Voraus vor den [3][Emotionen im Nahostkonflikt warnen], lässt
       bereits die neuste Weiterentwicklung der Hetze erahnen. Wurde im
       vergangenen Jahr allen arabisch-migrantisierten Jugendlichen Gewaltlust
       angedichtet, dürfte das Framing in diesem Jahr durch die pauschale
       Unterstellung von Judenhass erweitert werden.
       
       Das hat nur oberflächlich etwas mit der tatsächlich notwendigen
       Problematisierung von Antisemitismus in palästinasolidarischen Kreisen zu
       tun. Viel eher entlädt die bürgerliche Gesellschaft auf die Jugendlichen
       ihre eigene historische Schuld und ihr eigenes Antisemitismusproblem. Die
       Jugendlichen, deren Familienangehören [4][in Gaza] von israelischen Bomben
       zerfetzt werden, stören die Selbstbeweihräucherung des neuen deutschen
       Nationalismus, der nicht zwischen Juden und der israelischen Regierung
       unterscheiden kann und deshalb einen merkwürdigen Nationalstolz aus seiner
       unbeschränkten Israelsolidarität zieht.
       
       ## Gegen die Gewalt der Verhältnisse
       
       Wer es dagegen ernst meint mit dem Kampf gegen die verschiedenen Formen des
       auch in der Linken grassierenden Antisemitismus, dem sei [5][die
       Podiumsdiskussion] der Gruppe „Punks against antisemitism“ in der
       [6][Kirche von Unten – KvU] zu diesem Thema empfohlen. Sprechen werden
       Anastasia Tikhomirova, Maria Kanitz, Kai Schubert und Elisa Aseva.
       Hinterher gibt es noch kräftig Pogo. (Freitag, 29. 12., Storkower Straße
       119, 19 Uhr)
       
       Doch warum fruchtet die rassistische Hetze überhaupt? Es wäre vereinfacht,
       das ganze Spektakel auf eine Inszenierung von oben zu reduzieren. Viel mehr
       bedienen Springer und AfCDU ein reales Bedürfnis der verrohenden
       bürgerlichen Gesellschaft. Wäre dem nicht so, könnte gar nicht so
       faktenfrei über [7][Jugendgewalt und ihre sozialen Ursachen] gesprochen
       werden. Die Faschisierung des Konservativismus geschieht, weil ein
       begieriges Verlangen nach einem Sündenbock existiert, der in den
       migrantisierten, männlichen Jugendlichen aus Arbeiterkiezen gefunden wird.
       
       Warum das so ist, ist sicher eine komplizierte Frage. Eine Rolle dürfte
       aber die alte These der Kritischen Theorie spielen, dass der Faschismus
       eine Form des Zynismus ist, die die ansonsten versteckte Gewalt der
       Verhältnisse nicht mehr leugnet, sondern offen zelebriert. Den Faschismus
       zu bekämpfen heißt deshalb, ihm die strukturelle Basis zu entziehen – und
       sich gegen alle staatlichen Gewaltverhältnisse zu stellen, wie sie in Form
       von Knästen, Abschiebungen und Polizei existieren.
       
       ## Silvester vor'm Knast!
       
       Eine gute Möglichkeit, solidarisch ins neue Jahr zu starten, bietet deshalb
       die alljährliche [8][“Silvester vor dem Knast“-Demo]. Denn im Knast zeigt
       sich die staatliche Gewalt ganz besonders eindeutig – und keineswegs sind
       die Eingesperrten alles gefährliche Gewaltverbrecher. In der JVA Plötzensee
       [9][sitzt ein Drittel] sogenannte [10][Ersatzfreiheitsstrafen] ab, etwa
       wegen ausstehender Bußgelder für einfaches Schwarzfahren. Andere
       Staatsgefangene sind Menschen, die abgeschoben werden sollen, oder die
       politischen Gefangenen, deren Aktivismus dem Staat zu weit ging.
       
       Die Isolation der Gefangenen zu brechen ist das Ziel der traditionellen
       Demonstration, die um 22:30 Uhr an der Ecke Alt-Moabit / Rathenower Straße
       vor der JVA Moabit startet. Schon vorher am selben Tag (31. 12.) findet um
       15 Uhr [11][eine Kundgebung] vor der JVA Tegel (Haupteingang, Seidelstr.
       39) statt, die sich gegen die miesen Bedingungen in Knästen wendet. Konkret
       soll auf die Haftbedingungen des [12][langjährigen Knastaktivisten Andreas
       Krebs] aufmerksam gemacht werden, dem eine angemessene Versorgung trotz
       schwerer Gesundheitsprobleme versagt würde.
       
       Von Krebs, der einst die [13][Gefangenengewerkschaft (GG/BO)] mit aufgebaut
       hat, können Linke lernen, dass auch in den beschissensten Lagen Widerstand
       möglich ist. Er hat einmal geschrieben: „Ich habe gelernt, dass im Knast
       wirklich alles möglich ist, wenn man nur will! Wenn man nur den Willen
       dafür aufbringt und sich gut untereinander organisiert, schafft man
       wirklich alles.“ Wenn man das auf die Verhältnisse draußen überträgt, wird
       es ja vielleicht doch noch was, mit den Hoffnungen fürs neue Jahr.
       
       29 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gewalt-von-Jugendlichen/!5904025
   DIR [2] https://www.rnd.de/panorama/forscher-warnt-vor-verzerrtem-bild-von-gewalt-gegen-einsatzkraefte-5JXTTO6KGFJYBA5ULU7CJS6EFU.html
   DIR [3] /Polizeieinsaetze-zu-Silvester/!5975453
   DIR [4] /Resolution-gegen-den-Krieg-in-Nahost/!5981754
   DIR [5] https://stressfaktor.squat.net/node/302678
   DIR [6] https://kvu-berlin.de/
   DIR [7] /Streetworker-zu-Silvesterrandalen-in-Berlin/!5903913
   DIR [8] https://kontrapolis.info/11843/
   DIR [9] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/jva-ploetzensee-zu-96-prozent-voll-ein-drittel-wegen-armutsdelikten-wie-schwarzfahren-li.383472
   DIR [10] /Reform-der-Ersatzfreiheitsstrafe/!5918975
   DIR [11] https://asanb.noblogs.org/?event=silvester-zum-knast-fuer-eine-gesellschaft-ohne-knaeste
   DIR [12] https://andreaskrebs.blackblogs.org/
   DIR [13] /Urteil-zu-Gefangenenverguetung/!5938770
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Timm Kühn
       
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