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       # taz.de -- Arzt über Drogenkrise in Syrien: „Die erste Dosis ist kostenlos“
       
       > Meth und Captagon bieten vielen Menschen in Syrien eine Flucht aus dem
       > Alltag. Die Folgen sind gravierend, warnt der Arzt Feras Fares.
       
   IMG Bild: Zerstörung von 100.000 Pillen in Nordwest-Syrien, August 2021
       
       taz: Herr Fares, Sie arbeiten als Arzt im Nordwesten Syriens, der weiterhin
       nicht vom Assad-Regime kontrolliert wird. Die humanitäre Lage dort gilt als
       katastrophal, nun mehren sich Berichte von einer Drogenkrise. Was hat es
       damit auf sich? 
       
       Feras Fares: [1][Dieses Gebiet ist mehr oder weniger den türkischen
       Behörden unterstellt]. Es gibt dort viele Flüchtlingslager, die nicht gut
       versorgt sind. Daten der Hilfskoordinierungseinheit der syrischen
       Übergangsregierung zeigen, dass einer von drei jungen Menschen zwischen 16
       und 32 Jahren in der Region suchtkrank ist.
       
       Um welche Art von Sucht handelt es sich? 
       
       Vor allem bei Kindern ist das Schnüffeln von Klebstoff verbreitet, was sehr
       schädlich für ihr neurologisches System ist. Dann gibt es noch das
       amphetaminartige Aufputschmittel Captagon, das vor allem aus den vom
       syrischen Regime kontrollierten Gebieten stammt. Captagon ist mit Meth das
       Hauptproblem in diesem Gebiet.
       
       Warum sind diese Substanzen so weit verbreitet? 
       
       Unter den Lebensbedingungen des Kriegs nimmt Drogenabhängigkeit schnell zu,
       das können wir überall auf der Welt beobachten. Im Nordwesten Syriens ist
       dies auch auf die psychische Verfassung der Menschen in den Lagern
       zurückzuführen. Sie haben keine Perspektive, keine Arbeit. Drogen bieten
       eine Möglichkeit, die Situation zu vergessen, in der man lebt.
       
       Welche Auswirkungen hat der Drogenkonsum auf die humanitäre Lage in der
       Region? 
       
       Der Konsum von Drogen verschlechtert den Gesundheitszustand vieler Menschen
       massiv. Auch die sozialen Folgen sind verheerend. Im Nordwesten Syriens hat
       die Zahl der Verbrechen zugenommen, der Anstieg von Raubüberfällen und
       Morden ist spürbar. In einigen Gebieten brechen die familiären und
       gemeinschaftlichen Strukturen zusammen und die Menschen werden abhängig von
       humanitärer Hilfe. Dazu kommt, dass es in der Region kein spezialisiertes
       Zentrum zur Behandlung von Drogenmissbrauch gibt.
       
       Meinen Sie Rehabilitationskliniken? 
       
       Es geht nicht nur um die medizinische Behandlung, sondern auch um die
       soziale Wiedereingliederung: Programme, die auf die Sucht abzielen und
       psychosoziale Unterstützung anbieten. Das ist im Nordwesten Syriens nicht
       verfügbar, auch weil die Geldgeber, die die Region unterstützen, nur
       Nothilfe leisten und sich nicht in langfristigen Wiederaufbauprojekten
       engagieren.
       
       Wie sichtbar sind Drogen im täglichen Leben auf den Straßen und in den
       Lagern im Nordwesten Syriens? 
       
       Auf den Straßen ist der Konsum nicht so sichtbar. Aber die Substanzen sind
       leicht zu bekommen, weil die Dealer in den Lagern allen bekannt sind. Was
       die Sache noch komplizierter macht, ist, dass sich die Verantwortlichen in
       den Flüchtlingslagern vermutlich am Geschäft beteiligen. Aber darüber haben
       wir keine genauen Informationen.
       
       Was sind die Preise für eine Captagonpille oder ein Gramm Meth? 
       
       Sehr, sehr billig. Für eine Captagonpille, glaube ich, weniger als 10 Cent.
       Meth wird dort hergestellt und ist noch billiger. Dealer verfolgen die
       Strategie, dass die erste Dosis Meth für Endnutzer kostenlos ist, um sie
       anzufixen.
       
       Sie haben beschrieben, wie der Nordwesten Syriens betroffen ist. Haben Sie
       Erkenntnisse zum Rest des Landes? 
       
       Wir haben nur begrenzte Informationen über die Lage in den Gebieten des
       syrischen Regimes. Aber nach dem, was wir hören, könnte die Zahl der Fälle
       dort doppelt so hoch sein. Die humanitäre Lage und auch die
       Lebensbedingungen sind dort sehr schlecht. Die Substanzen sind sehr billig,
       vor allem auch, wenn man sie zum Beispiel mit dem Preis von Zigaretten
       vergleicht. In ganz Syrien wird es immer verbreiteter, Drogen zu nehmen.
       Und es gibt Gerüchte, dass das Regime an der illegalen Verbreitung
       beteiligt ist.
       
       [2][Recherchen der britischen BBC haben gezeigt, dass die syrische
       Regierung vom Drogenhandel profitiert.] Ist das im Land allgemein bekannt? 
       
       Ja, alle wissen, dass das Regime am Drogenhandel mitschuldig ist.
       [3][Syrien wurde (im vergangenen Mai; d. Red.) wieder in die Arabische Liga
       aufgenommen], doch das hatte Bedingungen: Die erste war, dass Syrien den
       Export von Drogen wie Captagon in andere arabische Länder stoppt, weil dies
       dort die nationale Sicherheit gefährdet. [4][Es gibt zahlreiche Berichte,
       nach denen Mitglieder der syrischen Staatsführung mit dieser Art von
       Drogenhandel in Verbindung gebracht werden.]
       
       Wie gehen Sie in Ihren Einrichtungen klinisch mit suchtkranken Menschen um? 
       
       Wir haben Anfang 2023 begonnen, uns mit mehr Nachdruck mit diesem Problem
       zu befassen, nachdem wir in den Lagern, in denen wir arbeiten, mit mehreren
       Fällen von Drogenabhängigkeit und auch damit verbundenen
       Selbstmordversuchen konfrontiert waren. Wir betreiben 17 Zentren für die
       medizinische Grundversorgung in den Lagern und außerdem mehrere mobile
       Kliniken. Mit unseren Mitteln versorgen wir hauptsächlich syrische
       Binnenvertriebene. Leider konnten wir nicht genügend Mittel akquirieren, um
       ein spezialisiertes Zentrum für stationäre Suchtpatienten einzurichten.
       
       Was bräuchten Sie, um den Anforderungen im Zusammenhang mit dem
       Drogenmissbrauch in der Region gerecht zu werden? 
       
       Wir sehen das Ausmaß dieses Problems täglich mit eigenen Augen. Wir haben
       soeben eine Strategie entwickelt und sie mehreren Geldgebern zukommen
       lassen. Wir sollten ein spezialisiertes Zentrum einrichten, das das gesamte
       Paket an medizinischer und psychologischer Unterstützung bietet, aber auch
       eine Wiedereingliederung in die Gemeinschaft ermöglicht.
       
       Für längerfristige Lösungen wären wohl auch politische Ansätze nötig.
       Verfolgen Sie da auch bestimmte Ziele? 
       
       Medizinische Lösungen sind sicher nicht die alleinige Antwort. Und trotzdem
       können wir als Gesundheitsdienstleister hier im Nordwesten Syriens nicht
       die alles umfassende Lösung liefern. Aber auch das habe ich gerade schon
       erwähnt: Wenn wir nicht in jedem Bezirk im Nordwesten Syriens ein
       spezialisiertes Zentrum aufbauen, wird der Drogenmissbrauch innerhalb
       kürzester Zeit zu einer noch massiveren Angelegenheit werden. Das
       Drogenproblem breitet sich sehr stark aus. Auch die Behörden müssen
       geschult werden: Sie müssen lernen, wie man mit dem Stigma der Sucht
       umgeht, wie man den Betroffenen nicht noch mehr schadet. Denn wir dürfen
       nicht vergessen, dass die Menschen in diese Lage gekommen sind, weil sie
       höchst vulnerabel sind.
       
       1 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Menschenrechtler-ueber-Nordsyrien/!5985550
   DIR [2] https://www.bbc.com/news/world-middle-east-66002450
   DIR [3] /Arabisch-Islamischer-Gaza-Gipfel/!5972288
   DIR [4] https://www.aljazeera.com/news/2023/5/21/how-important-is-captagon-in-al-assads-return-to-the-arab-fold
       
       ## AUTOREN
       
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