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       # taz.de -- Demonstrationen: Deutschland, deine Protestkultur
       
       > Konfrontieren Bürger*innen ihre Vertreter*innen, gilt das schon
       > als „Verrohung“. Dabei ist Abschottung der politischen Klasse
       > undemokratisch.
       
   IMG Bild: Mehrere tausend Landwirte demonstrieren mit ihren Traktoren vor dem Brandenburger Tor am 18. Dezember
       
       Einmal tief Luft holen. Was ist in der Nacht [1][vom 4. Januar in
       Schlüttsiel] passiert? Ein Pulk von rund 300 Menschen ist zu einer Fähre
       gegangen und hat Lärm gemacht. Laut Angaben der Polizei wollten etwa 25
       Personen auf die Fähre gelangen, auf der sich Wirtschaftsminister Robert
       Habeck befand. So weit die Fakten.
       
       Ob es zu Gewalt gekommen wäre, wenn die Demonstrierenden auf das Schiff
       gekommen wären, ist reine Vermutung, ja Unterstellung. Dass die Fähre
       vorsichtshalber wieder abgelegt hat – verständlich. Dass die deutsche
       Öffentlichkeit über diesen Fast-Vorfall in Schnappatmung gerät –
       bedenklich.
       
       Die [2][Aufregung] über die „Gewalt“, die gar nicht passiert ist und nur
       vermutlich passiert wäre, sagt viel über Deutschlands [3][erbärmliche
       Protestkultur] und ein defizitäres Verständnis von Demokratie aus. In
       anderen Ländern gehört es zum Standardrepertoire, Politiker*innen
       aufzusuchen, zu stören und gegebenenfalls deren Fortbewegung zu blockieren.
       Warum auch nicht?
       
       Die meisten deutschen Regierungspolitiker*innen lassen sich diskret
       von ihren Chauffeur*innen in die Tiefgaragen des Bundestags bringen und
       fahren von da mit dem Fahrstuhl in den Plenarsaal. Will man im
       Regierungsviertel von einem Gebäude ins andere, gibt es praktischerweise
       unterirdische Gänge. Bloß kein Kontakt nach draußen! Ein feudaler König
       hätte es sich nicht besser erträumen können.
       
       Abgeordnete und Minister*innen bekommen normale Menschen quasi nie zu
       Gesicht. Sie müssen sich buchstäblich nie mit der Lebensrealität der
       Bevölkerung konfrontieren. Das ist nicht nur symbolisch ein Problem: Leider
       zeugt ihre Politik oftmals von eben dieser Entfremdung. Natürlich sucht man
       da als Bürger*in die Konfrontation. Wer das allein schon als „Verrohung“
       oder „antidemokratisch“ bezeichnet, sollte sich mal mit der Französischen
       Revolution beschäftigen, der Wiege der europäischen Demokratie. Der
       deutsche Hang zu Anstand und Gehorsam steht diesen Werten allzu oft
       entgegen.
       
       Auf einem anderen Blatt steht, [4][dass die Bauernproteste von
       Rechtsextremen unterwandert werden] und dass eine sehr kritische,
       inhaltliche Auseinandersetzung damit geboten ist. Es gibt unter den
       Demonstrant*innen rechtsextreme Chatgruppen, die den Sturz der
       Regierung fordern.
       
       Fairerweise muss man dazu sagen, dass die politische Zugehörigkeit der 25
       Fähren-Blockierer*innen noch nicht sicher festgestellt wurde. Wenn sie sich
       als rechtsextrem erweisen, dann ist es aber egal, ob sie eine Fähre
       blockieren oder nur danebenstehen: Dann ist ihre Ideologie das zu
       bekämpfende Problem.
       
       Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder sagte über die jüngsten
       Vorfälle, er [5][habe Verständnis für die Anliegen der Bauern], weise aber
       deren radikale Protestform zurück. Im Gegenteil, Herr Söder! Die Form als
       solche ist – bisher zumindest – völlig harmlos und Teil eines
       Standardrepertoires von zivilen Protesten. Die inhaltliche Ausrichtung
       hingegen sollte man streng unter die Lupe nehmen.
       
       Aber auch im Herausstellen der rechtsextremen Strömungen der
       „Bauernproteste“ wären zwei Dinge angebracht: Erstens, die verschiedenen
       Akteur*innen der Landwirtschaft auseinanderzuhalten und zwischen den
       unterschiedlichen Forderungen zu differenzieren. Nicht alle
       Landwirt*innen sind Teil der subventionierten Großindustrie, die eine
       mächtige Lobby auf Bundes- und EU-Ebene hat. Nicht alle protestierenden
       Landwirt*innen sind rechts und antiökologisch.
       
       Zweitens reicht es nicht, sich über die rechte Vereinnahmung zu empören,
       sondern es muss auch gegengesteuert werden. Dazu gehört in erster Linie,
       die realen Probleme der Bäuer*innen ernst zu nehmen. Und da geht es nicht
       nur um die Kfz-Steuer. Viele Landwirt*innen leiden unter massivem
       Höfesterben und Landgrabbing. In Frankreich und in der Schweiz gehört die
       Landwirtschaft zu einer Berufssparte mit besonders hoher Suizidrate – in
       Deutschland werden diese Zahlen zwar nicht erfasst, doch ist die
       Problemlage sehr ähnlich. Auch über diese Form der Gewalt muss gesprochen
       werden.
       
       Die frühere Aktivistin und Linkenpolitikerin Carola Rackete macht es
       deshalb richtig: [6][In einem Video] benennt sie die Probleme von
       Bäuer*innen, nimmt sie ernst, kritisiert die tatsächlichen Fehler der
       Bundesregierung, ohne zu pauschalisieren – und ruft gleichzeitig zu einer
       klaren Distanzierung von den rechten und rechtsextremen Kräften innerhalb
       der Proteste auf. So viel Komplexität muss sein.
       
       8 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Proteste-gegen-Kuerzungen/!5983706
   DIR [2] /Landwirte-gegen-Robert-Habeck/!5983747
   DIR [3] /Protest-und-Repression/!5958217
   DIR [4] /Extremisten-wollen-Agrarproteste-kapern/!5981385
   DIR [5] https://www.rnd.de/politik/wie-die-csu-die-bauernproteste-fuer-sich-nutzt-BO5WEGHCDZD67GUS2QODPVCI4Y.html
   DIR [6] https://x.com/CaroRackete/status/1743337688537935945?s=20
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lea Fauth
       
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