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       # taz.de -- Naher Osten und Deutschland: Krampf und Kampf
       
       > Am Druck, Israel möge sich mäßigen, ist Deutschland wenig beteiligt. Nach
       > 90 grauenvollen Tagen bleibt ein Gefühl der Mitschuld.
       
   IMG Bild: Ein zerstörtes Haus in Rafah, Süd-Gaza am 1. Januar
       
       Eine dreiköpfige palästinensische Familie, zur Kundgebung angereist mit
       sorgfältig gebastelten Schildern, die Parolen brav („Auch ein Krieg hat
       Regeln“) und in Klarsichthüllen drapiert. Vater, Mutter, Sohn. Darf ich sie
       fotografieren? Ja, sagt der Vater, nein, sagt die Mutter. Sie sorgt sich um
       die Sicherheit der Familie, ihre Sorge setzt sich durch. Ich mache ein Bild
       ohne Gesichter. Die Szene begleitet mich seitdem, und eine leichte
       Beschämung.
       
       In meiner Nachbarschaft, jeden Tag gehe ich daran vorbei, ein Wandgemälde
       in düsteren Grautönen, es bedeckt die ganze Höhe einer seitlichen Hauswand.
       Ein Kind im Tunnel, hohläugig vor Angst, mit einem Luftballon als Signal an
       die Außenwelt. Nur selten halten Passanten inne, das jüdische Geiselkind
       scheint unsichtbar in seiner grauen Einsamkeit. Weil das Symbol des
       Luftballons bekannt ist aus Darstellungen palästinensischer Kinder, ihrer
       anderen Art von Eingeschlossensein, verschwimmen meine Assoziationen. Jeden
       Tag verlieren in Gaza zehn Kinder ihre Beine. Alles sträubt sich, diesen
       Gedanken zuzulassen. Gefühle sind nicht gerecht, und Solidarität ist schon
       vom Wesen her nicht ausgeglichen.
       
       Was aber festzuhalten ist nach 90 grauenvollen Tagen des Krieges: Wir sind
       auf erschütternde Weise unter unseren Möglichkeiten geblieben. Als Land,
       dem der Schutz jüdischen Lebens wichtig und Verpflichtung ist und das
       zugleich die Heimat der größten palästinensischen Gemeinschaft Europas ist,
       wären wir prädestiniert, eine konstruktive Rolle zu spielen – als Staat wie
       als Gesellschaft, mit unseren vielen und bestens ausgestatteten
       Institutionen, die international tätig sind.
       
       Stattdessen: Krampf und Kampf nach innen, Feinderklärungen und Repression
       auf der einen Seite, hohle Radikalität auf der anderen. Und drumherum –
       Gleichgültigkeit. Nach 15 Jahren [1][Staatsräsondoktrin] ist das Wissen
       über Israel, Zionismus und jüdische Religiosität paradoxerweise
       gespenstisch gering, kritisches Wissen inklusive. Als wäre das alles nur
       ein Ding von denen da oben, der politischen Klasse. Und die
       Deutsch-Israelische Gesellschaft (Verein, der die Förderung der Beziehungen
       zu Israel auf zivilgesellschaftlicher Ebene zum Ziel hat; d. Red.) sieht
       ihre vornehmste Aufgabe darin, diese Klasse auf Israelkurs zu halten und
       gelegentlich Preisverleihungen zu zensieren.
       
       Viel Papier wurde bedruckt in diesen 90 Tagen, mit Besinnungsaufsätzen,
       Anschuldigungen, Selbstversicherungen. Aber gab es eine einzige Tat, bei
       der die Welt für eine Sekunde aufgemerkt hätte: Aha, das kommt aus
       Deutschland, dem Land, das aus seiner Gewaltgeschichte gelernt hat?
       Aufgemerkt wurde, als sich Deutschland enthielt bei der UN-Abstimmung über
       einen Waffenstillstand; [2][eine taktische Enthaltung, so die nachgereichte
       Erklärung], denn man wollte ja eigentlich dagegenstimmen. Welches Wort für
       eine solche Diplomatie?
       
       Ab März wird Deutschland keinen RichterInnenposten mehr am
       [3][Internationalen Strafgerichtshof] besetzen. Dass die deutsche
       Kandidatin durchfiel, hat mehrere Gründe, aber die deutsche Position im
       Nahostkrieg ist einer. Ursula von der Leyen, mit ihrer offenkundigen
       Doppelmoral im Hinblick auf die Kriegsschauplätze Ukraine und Gaza,
       belastet ja gleichfalls das deutsche Konto, wirkt wie das personifizierte
       Unvermögen, Europa mit neuen Weltverhältnissen zu verflechten.
       
       ## Parolenhafte Solidarität
       
       Anders als auf Putin hätte Deutschland, hätte die Europäische Union
       Einfluss auf Netanjahu. Doch am internationalen Druck, Israel möge sich
       mäßigen in seiner Kriegsführung, sind wir wenig beteiligt. Und mit „wir“
       meine ich das offizielle Deutschland ebenso wie die Bewegung auf der
       Straße. Was sich Palästinasolidarität nennt, erschöpft sich zu oft im Rufen
       von Parolen, deren Wert vor allem darin besteht, dass sie vom deutschen
       Staat verboten werden.
       
       Wenn das oberste Gericht der Vereinten Nationen eine Genozid-Klage zulässt,
       während das Aussprechen des Begriffs in Deutschland als Volksverhetzung
       geahndet wird, leben wir offensichtlich in einem seltsam verengten Gehäuse.
       Doch darf sich deshalb das Denken und Empfinden nicht verengen. Die Antwort
       auf die autoritäre Staatsräson kann nicht sein, jüdischen Schmerz zu
       missachten.
       
       Es wäre ratsam, dazu Edward Said zu lesen, und zwar sein Plädoyer, „die
       jüdische Erfahrung mit allem, was sie an Schrecken und Angst zur Folge hat,
       (zu) akzeptieren“. Auch wenn es eine Zumutung sei, unter den Bedingungen
       fortdauernden palästinensischen Leids die historische Komplexität des
       Konflikts anzuerkennen.
       
       ## Große Verlassenheit
       
       Keine Stimme von derartigem Rang definiert heute, was „Palestine will be
       free“ bedeuten soll. Deshalb blüht, wie jüngst jemand formulierte,
       „Resistance-Porn“ und „Twitter-Mudschahidin“: eine Salonradikalität weit ab
       vom Ort des Geschehens – und dort ist die Lage verzweifelter denn je. Im
       Westjordanland setzt eine Mehrheit gegen die zunehmende Siedlergewalt auf
       bewaffnete Milizen. Daraus spricht eine große Verlassenheit. Und wir,
       Europa, gerade Deutschland, haben dazu beigetragen. So bleibt, nach 90
       grauenvollen Tagen, ein Gefühl der Mitschuld. Wir tragen, ob wir wollen
       oder nicht, zur Verrohung bei, indem wir zusehen, wie täglich der Wert
       palästinensischen Lebens weiter sinkt.
       
       Welcher Widerstand gegen die Besatzung wäre legitim? Aus Sicht der
       deutschen politischen Klasse: keiner. Wer bewaffnet kämpft, ist – getreu
       der Definition Israels – Terrorist, und der gewaltlose Boykottaufruf
       antisemitisch. Gibt es eine deutsche Ethik, die im Westjordanland lebbar
       wäre?
       
       Weil steinewerfende Jugendliche oft verhaftet werden, schlagen manche
       Eltern ihre Söhne, damit sie sich nicht in diese gefährliche Situation
       begeben. Sie schlagen sie unter Tränen zu ihrem Schutz. Und die Kinder
       wachsen mit der Machtlosigkeit der Eltern auf. Was sagen wir da mit unserer
       Ethik der warmen Stube? Dass man Kinder nicht schlagen darf?
       
       10 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Charlotte Wiedemann
       
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