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       # taz.de -- Leistungen für Asylbewerber: Gängeln für die Stimmung
       
       > Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) drängt auf
       > Bezahlkarten für Geflüchtete. Dabei missachtet er Gesetze und bedient
       > Ressentiments.
       
   IMG Bild: Protest-Transparent 2012 am Zaun von Brandenburgs zentraler Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt
       
       BERLIN taz | Gegen jegliche Erfahrungswerte kommen längst verbannt
       geglaubte Geister der Gängelung zurück: Bezahlkarten für Geflüchtete.
       Brandenburg ist nun vorgeprescht. Und bügelt damit sowohl Bemühungen für
       ein gleichberechtigtes Zusammenleben als auch eigene Erfolge für mehr
       Gerechtigkeit weg. Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) hatte am Mittwoch
       seinen Innenminister Michael Stübgen (CDU) beauftragt, ein Vergabeverfahren
       für eine solche Bezahlkarte zu organisieren. Die Landesregierung will dafür
       1,9 Millionen Euro bereitstellen.
       
       Sein Vorstoß geht zurück auf eine [1][Länderkonferenz vom vergangenen
       Herbst]. Die Ministerpräsident*innen hatten sich in
       Bund-Länder-Treffen darauf verständigt, dass Asylsuchende zukünftig
       zumindest einen Teil ihrer Leistungen als Guthaben auf ein
       Bezahlkartensystem bekommen sollen. Bisher zahlen Sozialämter Leistungen
       direkt aus, oder sie überweisen sie an diejenigen, die bereits ein Konto
       haben. Teils können Gelder auch in Heimen ausgezahlt werden.
       
       Ziel sei, die Kommunen durch die Umstellung auf ein Kartensystem
       organisatorisch zu entlasten, da sie dann nicht mehr monatlich Geld
       auszahlen müssen, hieß es damals. Hintergrund aber war [2][die Vorstellung,
       Bargeld sei ein Anreiz für „illegale Migration“]. Auch in Berlin sind
       solche Bezahlkarten aktuell Thema im Senat.
       
       Beim Flüchtlingsrat Brandenburg ist man überrumpelt – und verärgert. Die
       Karte sei „Ausdruck e[3][iner Politik, die wieder einmal nur zu mehr
       Ungleichbehandlung] beiträgt und die kein einziges Problem lösen wird“,
       kritisiert Flüchtlingsrats-Mitglied Kirstin Neumann. Die Karten könnten
       etwa auf bestimmte Waren, für bestimmte Läden und bestimmte Regionen
       beschränkbar sein, doch das sei alles noch unklar.
       
       Neumann bezweifelt zudem, dass [4][Bezahlkarten rechtlich haltbar sind].
       „Wir gehen davon aus, dass dafür erst das Asylbewerberleistungsgesetzes auf
       Bundesebene geändert werden müsste“, sagt sie. Denn wer nicht mehr in einer
       Erstaufnahmeeinrichtung lebt, soll nach jetziger Gesetzeslage vorrangig
       Geldleistungen erhalten. Das Gesetz war 2015 geändert worden, weil das
       Bundesverfassungsgericht geurteilt hatte, dass ein System von Gutscheinen
       und eingeschränkten Einkaufsmöglichkeiten die Würde der Menschen verletze.
       Eine „Versorgung mit Sachleistungen zur Abschreckung“ widerspreche ganz
       klar diesem Urteil, sagt der Flüchtlingsrat.
       
       ## Integrationsbeauftragte warnt vor Diskriminierung
       
       Auch Brandenburgs Integrationsbeauftragte Doris Lemmermeier lehnt die Pläne
       für Bezahlkarten ab. Mit Bargeld für den Lebensunterhalt würden „nicht im
       großen Stil die Schlepperbanden bezahlt“, sagte sie der Deutschen
       Presse-Agentur. „Ich bleibe auch bei meiner Aussage, dass ich das
       diskriminierend finde“, sagte sie. Den [5][Menschen werde nicht zugetraut,
       verantwortlich mit dem Geld] umzugehen.
       
       Woidke [6][hält die Bundesgesetzeslage bisher nicht auf]. „Eine Umstellung
       von Barzahlungen auf Sachleistungen mit der bundesweiten Einführung von
       Bezahlkarten kann ein wichtiger Schritt sein, um illegale Migration zu
       reduzieren“, sagte er. „Wir benötigen ein Umdenken bei der Gewährung von
       Leistungen für geflüchtete Menschen.“
       
       Dabei lässt er auch unter den Tisch fallen, dass es seine eigene Partei,
       die SPD, gewesen war, die sich in der Vergangenheit in Brandenburg, aber
       auch bundesweit dafür eingesetzt hatte, [7][dass Flüchtlinge bevorzugt
       Geldleistungen] bekommen. „2011 war die SPD-geführte Landesregierung noch
       auf dem Standpunkt, dass Sachleistungen die eigenständige Lebensgestaltung
       der Betroffenen einschränken“, kritisiert Brandenburgs Flüchtlingsrat.
       
       In [8][seiner Simulation von Anpack-Aktivismus] setzt sich Woidke nicht nur
       über die Ansicht seiner Integrationsbeauftragten, sondern auch über sein
       eigenes grünes Sozial- und Integrationsministerium hinweg. Die wären
       nämlich eigentlich für die Maßnahme zuständig. Die Sozial- und
       Integrationsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) hatte sich in der
       Vergangenheit kritisch zu einer Karte positioniert und grundsätzliche
       Bedenken geäußert. Aktuell wollte sie die Bezahlkarte nicht kommentieren.
       
       ## Berlin wartet noch ab
       
       In Berlin pocht die Senatsverwaltung für Soziales auf die Gesetzeslage:
       „Mit der Einführung der Bezahlkarte soll keine Abkehr vom Geldleistungs-
       hin zum Sachleistungsprinzip verbunden sein.“ Barauszahlungen müssten
       ermöglicht werden, Einkaufsmöglichkeiten nicht eingeschränkt und die Karte
       dürfe nicht zur Stigmatisierung führen, teilt ein Sprecher auf Nachfrage
       mit. Ob Berlin sich an einem bundesweiten Vergabeverfahren für Bezahlkarten
       beteiligt, will man im März entscheiden.
       
       „Wir lehnen dieses System als diskriminierend und bevormundend ganz klar
       ab“, sagt Sina Stach vom Flüchtlingsrat Berlin. „Eine Bezahlkarte greift
       massiv in das Recht auf Selbstbestimmung ein. Man kann damit überwachen und
       reglementieren, wie und wo Menschen bezahlen“, sagt sie. „Das öffnet Tür
       und Tor für weitere Einschränkungen.“ Es sei komplett unklar, wie kommende
       Regierungen mit solchen Bezahlkarten umgingen, wenn das System einmal
       etabliert ist. „Und es ist zynisch: Menschen fliehen nicht, weil sie hier
       Bargeld bekommen“, sagt Stach. „Entlastend für die Bürokratie wäre, wenn
       Asylsuchende direkt ein Basiskonto bekommen, auf das Leistungen ausgezahlt
       werden“, sagt sie. „Das befürworten wir.“
       
       Während Berlin überlegt, schafft Brandenburg Tatsachen: Der Innenminister
       werde den IT-Dienstleister Dataport bis 15. Januar mit der Durchführung
       eines Vergabeverfahrens zur Auswahl eines Dienstleisters für die Ausgabe
       und Beladung von Debitkarten beauftragen, teilte Woidtkes
       Regierungssprecher mit. Auch Sachsen-Anhalt will sich an der Beauftragung
       eines Dienstleisters für ein Vergabeverfahren beteiligen.
       
       ## „Kniefall“ und „Stimmenfang“
       
       Woidke bediene „auf Stimmenfang“ die „Ressentiments rückwärtsgerichteter
       Kräfte“, kritisiert Brandenburgs Flüchtlingsrat. Es ginge ihm nicht um eine
       gute Versorgung, sondern um „den Ausbau von Kontrolle.“ Dabei missachte er
       [9][Aufrufe für eine „sachliche Migrationsdebatte“] aus Politik und
       Zivilgesellschaft. Viele Landkreise würden bereits effizientere Lösungen
       nutzen, indem sie Asylbewerberleistungen direkt auf Bankkonten überweisen.
       „Die Landesregierung investiert 1,9 Millionen Euro in eine Maßnahme, die in
       der Praxis keinen Nutzen bringt“, das Geld müsste stattdessen in die
       soziale Infrastruktur investiert werden, heißt es vom Flüchtlingsrat.
       
       Andrea Johlige, flüchtlingspolitische Sprecherin der Linksfraktion im
       Brandenburger Landtag, bezeichnete Woidkes Schritt als „Kniefall vor der
       AfD“. „So eine Bezahlkarte führt doch am Ende nur dazu, dass sie umgangen
       wird“, sagt Johlige. Solidarische Menschen hätten auch damals schon
       Geflüchteten Gutscheine abgekauft, damit sie Bargeld hätten. „Es war ein
       Erfolg der Zivilgesellschaft, dass das Sachleistungsprinzip damals
       abgeschafft wurde“, betont sie. „Wer das AfD-System bedient, macht sie nur
       stark, das sollte doch inzwischen klar sein.“
       
       12 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/2235232/cfdda9bbcb5618770e9a8dde8fedea87/2023-11-07-mpk-fluechtlingspolitik-data.pdf?download=1
   DIR [2] /Weitere-Verschaerfung-fuer-Gefluechtete/!5965956
   DIR [3] /Steinmeiers-Aeusserung-zu-Migration/!5961122
   DIR [4] /Streit-um-Migationspolitik/!5966287
   DIR [5] /Union-fuer-Sachleistungen-fuer-Gefluechtete/!5950865
   DIR [6] /Leistungen-fuer-Gefluechtete/!5964135
   DIR [7] /Leistungen-fuer-Asylsuchende/!5088698
   DIR [8] /Neue-Regeln-fuer-Asylsuchende-geplant/!5962718
   DIR [9] https://www.aufruf-migrationsdebatte-brandenburg.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uta Schleiermacher
       
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