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       # taz.de -- Schweizer*innen abgehört: Eine NSA für die Schweiz?
       
       > In der Schweiz wurde ein System zur systematischen Überwachung des
       > Internetverkehrs aufgebaut. Versprochen hatte die Regierung das
       > Gegenteil.
       
   IMG Bild: Neben dem Nachrichtendienst des Bundes sitzt hier auch das Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport
       
       Es würde keine Massenüberwachung geben. Das versprachen der Schweizer
       Bundesrat und der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) 2016 im
       Abstimmungskampf zum Referendum über das [1][überarbeitete
       Nachrichtendienstgesetz].
       
       Mit der sogenannten Kabelaufklärung würden insbesondere keine Schweizer
       Bürger*innen überwacht. Das Gesetz sei so eng gefasst, dass „dieses
       Mittel nur gegen konkrete Bedrohungen eingesetzt werden kann und eine
       flächendeckende Überwachung aller Bürgerinnen und Bürger ausgeschlossen
       ist“. Das Ziel sei lediglich, grenzüberschreitenden Datenverkehr in
       sensible Regionen zu erfassen. Die „rein inländische Kommunikation“ sei
       nicht betroffen.
       
       Gekommen ist es anders. Das zeigt eine [2][ausführliche Recherche der
       Onlinemagazins Republik]. Seit das Gesetz in Kraft ist, wird mit der
       Kabelaufklärung der schweizerische Internetverkehr systematisch überwacht,
       nach Stichworten durchsucht und ausgesonderte Inhalte auf Vorrat
       gespeichert. Die Behörden können sämtliche Kommunikation nach
       Personennamen, Telefonnummern, Bezeichnungen für Waffensystemen oder
       sonstigen Begriffen durchforsten.
       
       ## Schweizer „Mini-NSA“
       
       Die Warnungen vor einem [3][„Schnüffelstaat“], vor einer Schweizer
       [4][„Mini-NSA“] haben sich bewahrheitet. Auch vor einem [5][„Fichenstaat
       2.0“] wurde gewarnt, in Anlehnung an den sogenannten Fichen-Skandal (vom
       Französischen „fiche“ für Akte) am Ende des Kalten Kriegs, als bekannt
       wurde, dass der Schweizer Geheimdienst fast eine Million Bürger*innen
       überwacht hatte.
       
       In den Jahren nach der Umsetzung des Gesetzes entstand eine
       besorgniserregende Diskrepanz zwischen den offiziellen Versprechungen und
       der tatsächlichen Umsetzung. Die anfänglich betonte Begrenzung auf konkrete
       Bedrohungen scheint einem umfassenderen Ansatz gewichen zu sein.
       
       Das ist erst klar, seit der NDB vor dem Bundesverwaltungsgericht über die
       Grundfrage Auskunft geben musste: Wie funktioniert die Kabelaufklärung auf
       technischer Ebene? Hintergrund ist [6][ein seit 2017 währender
       Rechtsstreit] zwischen Aktivist*innen, Journalist*innen und
       Anwält*innen einerseits und dem NDB andererseits. Gemeinsam mit der NGO
       „Digitale Gesellschaft“ fordern sie, dass in ihren Fällen keine
       Kabelaufklärung angewendet werden dürfe, weil diese eine
       Grundrechtsverletzung darstelle.
       
       Die Idee dahinter: Bekommen die Beschwerdeführer*innen recht, würde
       das System der Kabelaufklärung in sich zusammenbrechen. Denn um die
       interessanten Daten zu finden, muss der NDB sämtlichen Internetverkehr
       filtern. Zwar versucht der Nachrichtendienst in den Ausführungen vor
       Gericht diese technische Banalität zu verschleiern. Er behauptet, es würden
       nur einzelne Verbindungen, die die Schweiz mit dem Ausland verbinden,
       abgehört.
       
       ## Schweizer*innen „aus Versehen“ abgehört
       
       Damit gibt der NDB vor, in der Lage zu sein, Faserverbindungen erkennen zu
       können, die zum Beispiel Kommunikation zwischen der Schweiz und Syrien
       „enthalte“. Das ist falsch, denn die Wege, die unsere Daten durch das
       Internet nehmen, wechseln ständig – und sie nehmen auch nicht zwingend den
       physisch kürzesten Weg.
       
       Das betrifft auch die Kommunikation innerhalb der Schweiz. Eine E-Mail von
       Bern nach Basel nimmt in der Regel einen Umweg übers Ausland. Das räumt der
       NDB in den Stellungnahmen sogar selbst ein. Man könne den Datenverkehr
       zwischen Schweizer*innen nicht von vorneherein rausfiltern. Das sei
       „technisch unmöglich“, bestätigt der NDB gegenüber der Republik. Erst nach
       der Sichtung der Daten könne man erkennen, falls „aus Versehen“ die
       Kommunikation von Schweizer Einwohner*innen mitgeschnitten wurde.
       
       Mit anderen Worten: Damit die Kabelaufklärung funktioniert, muss sämtlicher
       Internetverkehr im Visier sein. Das bedeutet auch, dass die zuständigen
       Analyst*innen die herausgefilterten Datenströme manuell und inhaltlich
       prüfen müssen – damit jene Inhalte wieder entfernt werden, die gesetzlich
       nicht erfasst werden dürfen. [7][Gegenüber dem Schweizer Fernsehen
       behauptet der NDB dennoch weiter], nur Informationen zu bearbeiten, „die
       den definierten und genehmigten Suchbegriffen entsprechen“.
       
       Konsequenzen dürften die Enthüllungen kaum haben. 2016 votierten fast zwei
       Drittel der stimmberechtigten Bevölkerung für das Gesetz. Und aktuell
       versucht der Bund, die bisherige Praxis des NDB mit einer Gesetzesrevision
       zu legalisieren.
       
       17 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.fedlex.admin.ch/eli/oc/2017/494/de
   DIR [2] https://www.republik.ch/2024/01/09/der-bund-ueberwacht-uns-alle
   DIR [3] https://www.humanrights.ch/de/ipf/initiativen-parlament/nachrichtendienstgesetz/chronologie/
   DIR [4] https://www.inside-it.ch/post/nachrichtendienst-darf-mini-nsa-spielen-20150317
   DIR [5] https://gsoa.ch/fichenstaat-20/
   DIR [6] https://www.digitale-gesellschaft.ch/2017/08/31/digitale-gesellschaft-erhebt-beschwerde-gegen-die-kabelaufklaerung-massenueberwachung-durch-den-geheimdienst/
   DIR [7] https://www.srf.ch/news/schweiz/recherche-der-republik-gibt-es-in-der-schweiz-eine-massenueberwachung-ndb-widerspricht
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Florian Wüstholz
       
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