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       # taz.de -- „Poor Things“ mit Emma Stone: Ein zurechtgerücktes Leben
       
       > In „Poor Things“ interpretiert Yorgos Lanthimos den Frankenstein-Stoff
       > feministisch. Er läuft aber Gefahr, das zu betreiben, was er kritisieren
       > will.
       
   IMG Bild: Eine außergewöhnliche Frau, spektakulär ins Bild gesetzt: Bella Baxter (Emma Stone) in „Poor Things“
       
       Yorgos Lanthimos schafft, was er am besten kann: Der griechische
       Filmemacher entwirft mit „Poor Things“ eine wundersame Welt, durch die das
       Publikum in etwas völlig Eigenes eintaucht. So konsequent wie in seinem
       neuesten Spielfilm verfolgte der [1][Regisseur von „The Favourite“] und
       [2][„The Lobster“] aber nie zuvor einen derart originellen und visuell
       opulenten Stil.
       
       Allein der Reichtum an bizarren Ideen, mit dem hier eine phantasmagorisch
       aufgeladene Variante der viktorianischen Ära geschaffen wird, um eine
       feministische Interpretation des Frankenstein-Stoffs zu erzählen, ist
       beeindruckend: Die Villa des zurückgezogen lebenden Chirurgen Godwin Baxter
       (Willem Dafoe) steckt nicht nur voller grotesker Gerätschaften wie einem
       externen Verdauungsapparat. Auch skurrile Schöpfungen wie Gänse mit dem
       Kopf eines Hundes (und andersherum), die Ausdruck von Baxters unorthodoxer
       Herangehensweise an sein Handwerk sind, streifen über das Anwesen am Rande
       Londons.
       
       Allerdings zieht nichts davon eine ähnliche Aufmerksamkeit auf sich wie
       eine junge Frau mit langem schwarzen Haar und stechend blauen Augen. Trotz
       ihres Aussehens, das auf ein Alter von etwa 30 Jahren schließen lässt,
       verhält sie sich seltsam kindlich: Ihre Bewegungen wirken nicht weniger
       unbeholfen als ihre Sprache, ihr Wortschatz ist begrenzt und die Syntax
       ihrer Sätze lässt viel Fantasie erkennen, ist aber meist fehlerhaft.
       
       ## Kein richtiges Leben im falschen
       
       Bella (Emma Stone) ist nicht nur die größte Kuriosität, die Godwin Baxter
       bislang hervorbrachte, sondern auch das Kernkuriosum dieses
       schwarzhumorigen Fantasydramas. Es ist, wie es in den besseren Werken von
       Lanthimos stets der Fall ist, nicht allein am Wahnwitz einer wundersamen
       Welt, sondern an einer Reflexion über unsere eigene interessiert. „Es gibt
       kein richtiges Leben im falschen“, der kanonisch gewordene Satz aus Theodor
       W. Adornos „Minima Moralia“ kommt in den Sinn, wenn man sich tiefer mit
       dieser Figur, die einst vom schottischen Schriftsteller Alasdair Gray
       erdacht wurde, beschäftigt.
       
       Egal, ob man diesen Satz nun in seiner gängigen Deutung versteht, wonach
       das gute Dasein des Einzelnen nicht in einer schlecht eingerichteten
       Gesellschaft gelingen kann, oder so, wie ihn der Mitbegründer der
       Kritischen Theorie gemeint hat, nämlich lediglich auf Wohnkultur bezogen.
       Auf Bella Baxters Geschichte passt beides. Die junge Frau ist noch in einem
       dritten Sinne schlecht eingerichtet, im zugleich wichtigsten für das
       Gedankenexperiment, auf das sich Lanthimos’ angestammter Drehbuchautor Tony
       McNamara („The Favourite“) in seiner Adaption der gleichnamigen
       Romanvorlage konzentriert: Was ihr Schöpfer, den sie vielsagenderweise
       bevorzugt als „God“ bezeichnet, zwar verheimlicht, „Poor Things“ seinem
       Publikum aber früh eröffnet, ist, dass Bella sich von einer Brücke gestürzt
       hatte, um sich das Leben zu nehmen.
       
       Der wohlmeinende Wissenschaftler verzichtete angesichts des Schicksals, das
       die schwangere Frau im 19. Jahrhundert nach einem Selbstmordversuch
       erwartet hätte und der unglücklichen Erinnerungen, die sie zu dieser Tat
       getrieben haben mögen, allerdings darauf, sie wiederzubeleben – und
       transplantierte stattdessen das Gehirn ihres ungeborenen Säuglings in ihren
       Körper.
       
       ## Mit dem Körper einer erwachsenen Frau
       
       Wie der Plot in einem Parforceritt durch eine Myriade an Stimmungen und
       Schauplätzen aufzeigt, ist dieses Leben im falschen aber so falsch gar
       nicht. Zumindest für Bella, die mit kindlicher Neugier auf die Welt blickt,
       noch nichts von ihren Schlechtigkeiten weiß und nicht nur von Godwin,
       sondern bald auch von einem befreundeten Nachwuchswissenschaftler Max
       McCandles (Ramy Youssef) erbittert vor ihnen beschützt wird, fühlt es sich
       wie ein gigantisches Abenteuer an. Eines, dem weder durch finanzielle
       Einschränkungen noch durch die Regeln der Etikette einengende Grenzen
       gesetzt sind.
       
       Auf Basis dieser ausgefallenen Kombination eines schnell lernenden
       Bewusstseins, das noch nicht vom Fluch schmerzlicher Erfahrungen oder dem
       Wissen um die Rolle von Ruf und Gepflogenheiten befallen ist, mit dem
       Körper einer erwachsenen Frau, betrachtet „Poor Things“ die Freiheiten, die
       sich für Bella ergeben. Anders als der 1992 erschienene Text von Gray
       beschäftigt sich die Adaption allerdings hauptsächlich mit jenen, die
       sexueller Natur sind.
       
       Kurz nachdem sie ausgerechnet mithilfe eines Apfels ihr körperliches
       Begehren entdeckt, bricht die junge Frau, trotz ihrer Verlobung mit
       besagtem McCandles, an der Seite des aufschneiderischen Anwalts Duncan
       Wedderburn (Mark Ruffalo) zu einer ausgedehnten Reise durch Lissabon,
       Alexandria und Paris auf. Dabei beleuchtet der Plot auf spaßige, aber
       gleichsam profunde Weise das Anrüchige am gesteigerten Interesse, das ein
       Gros der Männer an einer exzeptionellen Frau zeigt, die sich nicht an die
       strenge Sexualmoral ihrer Zeit gebunden sieht und aufgrund ihres noch
       geringen Erfahrungsschatzes außerdem eine große Begeisterungsfähigkeit
       mitbringt.
       
       ## Dem „Male Gaze“ verfallen
       
       Nicht weniger amüsiert sich der Film über den männlichen Besitzanspruch und
       ihre Empörung, wenn Bella sich diesem ohne böse Absicht und einzig im
       Dienste ihres eigenen Begehrens beständig entzieht. Das nachdrückliche
       feministische Ansinnen ist Tony McNamaras Drehbuch anzumerken, über weite
       Strecken ist es sogar sehr überzeugend. Eine Inszenierung, die eine
       weibliche Figur, die noch in der Buchvorlage eine wesentlich breiter
       gefächerte Neugier auszeichnet, nun nahezu allein über ihre ungezwungene
       Herangehensweise an Sexualität definiert, läuft allerdings Gefahr, das zu
       betreiben, was sie zu kritisieren sucht.
       
       Dem „Male Gaze“ verfällt Lanthimos’ Interpretation spätestens dann, als er
       eine Station in einem französischen Bordell – die sich bei Alasdair Gray
       nur auf wenige Seiten beschränkt – zu einem zentralen Kapitel erhebt und
       Bellas Anstellung als Prostituierte trotz mehrheitlich unangenehmer Kunden
       ein wenig zu blauäugig von abhängiger Erwerbsarbeit zu einem
       emanzipatorischen Akt umdeutet.
       
       Dass die Filmadaption sich bei der Frage nach dem „Was wäre, wenn?“ stark
       auf das Verhältnis der Geschlechter beschränkt, ist im Hinblick auf die
       Kreativität der Vorlage umso bedauerlicher. Während „Poor Things“
       Überlegungen zu sozialer Ungleichheit auf wenige Momente reduziert, in
       denen Bella den Ungerechtigkeiten dieser Welt begegnet, wie etwa der Armut
       in Alexandria, sind sie im Buch noch das tragende Element.
       
       ## Ein gewagtes und gehaltvolles Filmexperiment
       
       Die Tatsache, dass Bella nicht an die Schlechtigkeit der Gesellschaft
       gewöhnt ist und noch den Glauben daran besitzt, dass die Welt an den
       Stellen, an denen sie nicht gut eingerichtet ist, zurechtgerückt werden
       kann, wird zu ihrer treibenden Motivation, sich nicht damit zu begnügen,
       ein gutes Leben im falschen zu führen. Sondern das Falsche, zumindest ein
       Stück weit, in Richtiges zu verkehren. Kennt man Film und Buch, kommt man
       also nicht um die Frage umhin, was mit diesem Stoff in den Händen eines
       anderen Filmemachenden möglich gewesen wäre.
       
       Dank bestechend schöner Sets im Stile der Steampunk-Ästhetik, eines nicht
       minder aufwendigen Kostümdesigns, vor allem aber Emma Stones einnehmenden
       Spiels, das sowohl in der komischen Affektiertheit als auch dem
       allmählichen Wachsen ihrer Figur überzeugt, bleibt „Poor Things“ allerdings
       ein überaus sehenswertes Spektakel. Bei aller spürbaren Anpassung des
       Stoffes an den Zeitgeist ist Lanthimos und McNamara ein gewagtes und
       gehaltvolles Filmexperiment gelungen. Den Film sollte man sich nicht
       entgehen lassen. Die Lektüre von Alasdair Gray aber noch weniger.
       
       16 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Arabella Wintermayr
       
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