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       # taz.de -- Wandel der Arbeitswelt: Schaffe, schaffe, Päusle mache
       
       > Der Arbeitsethos der Deutschen ist berühmt-berüchtigt. Doch nun wollen
       > immer mehr Menschen flexibler und weniger arbeiten. Was ist da
       > verrutscht?
       
       Mein Lieblingscartoon aus einem schwäbischen Witzebilderbuch geht so: Eine
       Trauergesellschaft steht zusammen. Nach dem Gebet schnappt sich eine der
       Verwandten die Urne und verkündet: „Der hat sei’ Lebtag nix gschafft, der
       kommt in die Eieruhr!“
       
       Treffender kann man den protestantischen Arbeitswahn, der im Ländle
       gepflegt wird, kaum beschreiben: Wer sein Pensum zu Lebzeiten nicht mit dem
       gebotenen Fleiß abgeleistet hat, muss dann eben im Jenseits noch mal ran.
       Von nix kommt nix. Und Arbeit hat noch niemandem geschadet. Oder?
       
       Nun ja, es gibt schlechte Nachrichten für die fleißigen Schwaben. Die
       Arbeitswelt ist in der Krise und [1][mit ihr das deutsche Arbeitsethos].
       „Schaffe, schaffe, Häusle baue“, das war einmal. Jetzt diskutiert das Land
       [2][über eine Vier-Tage-Woche] und die richtige Work-Life-Balance.
       „Deutsche lieben ihre Arbeit nicht mehr“, resümierte n-tv, nachdem bei der
       jährlichen „Berufe-Studie“ eines großen Versicherers kürzlich herauskam,
       dass nur noch 47 Prozent der Befragten ihr Beruf viel bedeutet.
       
       81 Prozent der Vollzeitbeschäftigten würden sich laut einer aktuellen
       Studie der Hans-Böckler-Stiftung für eine Vier-Tage-Woche entscheiden, wenn
       sie die Möglichkeit dazu hätten. Und laut einer ZDF-Umfrage aus dem Mai
       2023 würde von den 18- bis 35-Jährigen jeder Fünfte gern seinen Job
       kündigen – zu schlechte Bezahlung, mangelnde Wertschätzung, zu viel Stress.
       Das alte Arbeitsmodell – jeden Tag in die Firma, 35 Jahre lang, bis zur
       Rente – hat für sie ohnehin ausgedient.
       
       Aber wollen hierzulande tatsächlich immer weniger Menschen viel arbeiten?
       Und was wird dann aus dem viel gepriesenen Wirtschaftsstandort Deutschland?
       
       Auf die Frage angesprochen, ob denn niemand mehr richtig arbeiten will,
       sprengt Sophie Jänicke, Vorstandsmitglied der IG Metall, mit ihrer Gestik
       fast den Bildschirm unseres Videotelefonats.
       
       Die dunkelhaarige Gewerkschafterin, die sonst sehr sachlich spricht, ruft:
       „Ich finde die Debatte verkürzt und respektlos“. Man solle es doch mal so
       betrachten: „Vielleicht haben die Jungen von ihren Boomer-Eltern gelernt.
       Das war schließlich die Burnout-Generation. Und deren Kinder sagen jetzt:
       Wir wollen nicht, dass die Arbeit uns krank und kaputt macht. Wir wollen
       mehr vom Leben.“ Und das heiße ja nicht nur „fun“, sondern auch: „Zeit für
       Hobbys, für politisches Engagement oder eine gesellschaftlich sinnvolle
       Tätigkeit, etwa im Klimaschutz oder im Sportverein.“
       
       Die Generation Burnout kenne ich gut, mein Onkel war ein Musterbeispiel. Er
       stammte aus einer ostpreußischen Arbeiterfamilie, beendete mit 16 die
       Handelsschule und begann eine Lehre in einem globalen Versicherungskonzern.
       Ackerte sich hoch bis zum Prokuristen und Abteilungsleiter. Lernte Business
       English, und nach Feierabend ging es öfter noch in die Bar zur
       Kontaktpflege.
       
       ## „35 Jahre lang / Haken für den Duschvorhang“
       
       „Warte, bis der Papa nach Hause kommt“, hieß es daheim für meinen Cousin,
       im Guten wie im Schlechten. Aber war Papa mal da, war er müde und wollte
       seine Ruhe. Seine chronische Erschöpfung hätte er sich niemals
       eingestanden, das war in seinen Augen was für Weicheier. Lieber trank er
       noch einen Grappa, um schlafen zu können. Zur Belohnung kam jedes Jahr
       pünktlich zu Weihnachten ein edles, mit sagenhaft hochpreisigen Leckereien
       bestücktes Fresspaket mit Gruß des Vorstands an die besonders verdienten
       Angestellten. Bis zur Rente ging das so. Danach blieb nicht mehr viel, mit
       73 Jahren starb mein Onkel.
       
       „35 Jahre lang / Haken für den Duschvorhang“, sang mein Cousin mal ironisch
       [3][zur Platte der Toten Hosen], als wir uns bei einem der Weihnachtsfeste
       aus dem Versicherungspaket bedienten. „Den Abschiedsbrief hat er sich
       eingerahmt / er macht die selbe Frühstückspause wie in all den Jahrn“. Die
       Anspielung bekam mein Onkel nicht mit, er war wahrscheinlich auf dem Sofa
       weggenickt.
       
       Ackern, damit man was wird und die Kinder es einmal besser haben. Schon
       lange ist dieses von Figuren wie Gerhard Schröder oder eben meinem Onkel
       verkörperte Versprechen des Bildungsaufstiegs löchrig. Wer heute reich ist,
       ist es meist seit Geburt oder wird es durch Erbe oder geschickte
       Spekulation und immer seltener durch Fleiß und Ehrgeiz.
       
       Die logische Schlussfolgerung ist der bewusste Rückzug aus einer
       Arbeitswelt, die gerade für Jüngere oft mehr Prekarität und Stress
       bereithält als persönlichen Gewinn. „Arbeit nervt“, findet nicht nur die
       Band Deichkind.
       
       Die Berliner Autorin und selbst ernannte Slackerin Nadia Shehadeh
       formuliert es in ihrem trotzigen Fleißverweigerungsbuch „Anti-Girlboss“
       etwas ausführlicher: „Ich habe ein Lebensmotto, an das ich fest glaube: Ein
       halbwegs öder Tag zu Hause ist immer noch besser als ein interessanter Tag
       bei der Arbeit.“
       
       Josefine Loewe ist keine Slackerin, Soziolog*innen würden sie eher zu
       den hedonistischen Performer*innen zählen. Leistungsorientiert, ja,
       aber nicht um jeden Preis. Vollzeit kommt für Loewe nicht in Frage, auf ein
       interessantes Arbeitsumfeld legt sie größten Wert. Als die heute 33-Jährige
       2018 beim Berliner Personaldienstleister Kooku als Recruiterin anfing,
       handelte sie beim Einstellungsgespräch aus, in Teilzeit und remote arbeiten
       zu dürfen, also von einem Ort ihrer Wahl aus – was vor Corona noch sehr
       unüblich war, aber in ihrem Job durchaus möglich. „Zum Arbeiten brauche ich
       nur einen Coworking-Space mit stabilem Wlan und einer Kaffeemaschine“,
       erzählt sie am Telefon.
       
       Drei Jahre lang arbeitete sie von Bali aus, lebte [4][den Traum von
       „Workation“]: Vor der Arbeit im Meer schwimmen, nach Feierabend Tanzen am
       Strand, am Wochenende das Land entdecken. Für viele eine Utopie, laut Loewe
       aber durchaus realistisch, wenn man sich gut selbst organisieren könne und
       den entsprechenden Job habe. Natürlich, räumt sie ein, könne das nicht
       jeder, sie wisse, dass sie in einer privilegierten Situation sei. Loewe ist
       kinderlos, ungebunden, hat keine gesundheitlichen Einschränkungen. Nach
       ihrem Aufenthalt in Bali folgten Sri Lanka, Thailand, Australien, die
       Komoren; zuletzt stand ihr Laptop drei Monate in Barcelona. Inzwischen sei
       sie jedoch etwas gesettleter und auch schon mal ein halbes Jahr in Berlin.
       So ein Büro sei auch schön, findet sie – so lang sie jederzeit wieder ihre
       Koffer packen kann.
       
       Diese jungen Leute, nichts als fun im Kopf, selbst beim Arbeiten! Aber –
       warum eigentlich nicht? Denn die jungen Leute wissen, dass sie demografisch
       eine wertvolle Ressource sind und verhandeln dementsprechend. Bis zum
       Umfallen schuften fürs Weihnachtspaket? Nein, danke! Ihnen steht eine
       ältere Generation gegenüber, die damit wenig anfangen kann. Der kürzlich in
       Rente gegangene „Trigema“-Firmenpatriarch Wolfgang Grupp etwa befand noch
       2023: „Wenn einer zuhause arbeiten kann, ist er unwichtig.“
       
       Dass in Deutschland derzeit so verbissen um die Rahmenbedingungen des
       Arbeitens gestritten wird, über Betriebsvereinbarungen zum Homeoffice bis
       zur Vier-Tage-Woche, liegt daran, dass sich die gewohnte Arbeitswelt gerade
       im Rekordtempo auflöst. Während der Pandemie ist etwas ins Rutschen
       gekommen.
       
       ## Mehr Krankheitstage
       
       Im Lockdown haben Arbeitnehmer*innen aller Generationen erlebt, wie
       scheinbar unabänderliche Abläufe über Nacht umgekrempelt werden können.
       Dass es möglich ist, einen Vertrieb oder eine ganze Firma von zu Hause aus
       zu managen. Dass eine berufliche Karriere nicht zwangsläufig bedeutet, von
       neun bis fünf im Büro zu sitzen, sondern dass man auch das Kind von der
       Kita abholen kann oder zwischendurch Wäsche aufhängen, ohne dass die Arbeit
       leidet.
       
       Allerdings haben die erschwerten Bedingungen zwischen Kurzarbeit,
       Homeoffice und Kinderbetreuung zu Hause bei vielen auch zu einer großen
       Erschöpfung geführt.
       
       Die Autorin Sara Weber, die 2021 ihren Job bei einer Karriereplattform
       kündigte, beschreibt in ihrem Buch „Die Welt geht unter, und ich muss
       trotzdem arbeiten?“ das Ausmaß ihrer Erschöpfung folgendermaßen: „Ich
       mochte mein Team und meine Chefin, mein Job war eigentlich super (…) Was
       ich nicht sehen wollte: Dass ich seit Beginn der Pandemie oft
       durcharbeitete statt Mittagspause zu machen – bis mein Magenknurren so laut
       wurde, dass ich mir ein paar Gummibärchen in den Mund schob. Dass ich
       lieber vor dem Laptop sitzen blieb, statt mich abends mit Freund*innen zu
       treffen. Dass meine Arbeitstage nicht kürzer wurden, sondern länger. Mein
       Rücken tat weh, mein Nacken auch. (…) Arbeit und Freizeit mischten sich
       ineinander, in eine graue Masse, die alle Tage gleich wirken ließ.“
       
       Wie Weber geht es vielen in Deutschland. Die Schäden, die Homeoffice und
       Homeschooling in den Coronajahren hinterlassen haben, werden erst langsam
       sichtbar, in Form einer kollektiven Erschöpfung: Waren deutsche
       Arbeitnehmer*innen im Jahr 2015 im Durchschnitt 10 Tage krank
       gemeldet, waren es im Jahr 2021 bereits 11,2 Tage und 2022 15 Tage.
       
       Bei den Ursachen liegen psychische Belastungen mittlerweile an dritter
       Stelle, nach Atemwegs- und Muskel-Skelett-Erkrankungen. Ein Anfang Dezember
       veröffentlichter Gesundheitsreport des Dachverbands der
       Betriebskrankenkassen zeigte, dass 69,1 Prozent der unter 30-Jährigen und
       77,4 Prozent der über 30-Jährigen fünf Tage pro Woche arbeiten. Die
       meisten, egal ob Berufsanfänger oder schon länger im Geschäft, wünschen
       sich laut Report aber eine Abkehr vom Vollzeitjob.
       
       Man könnte also sagen: Seit Corona sind die deutschen
       Arbeitnehmer*innen gleichzeitig euphorisiert und erschöpft. Für manche
       ist der Traum von Vereinbarkeit von Familie und Beruf wahr geworden, wie
       für meine Kollegin, die bei der Weihnachtsfeier mit glänzenden Augen davon
       erzählte, wie viel besser ihr Leben durch das Arbeiten im Homeoffice
       geworden sei. Manche aber konnten gar nicht schnell genug zurück ins Büro,
       sie fühlten sich zu Hause einsam und überfordert.
       
       Christian Montag nennt es das Homeoffice-Paradox: Der Psychologe von der
       [5][Universität Ulm war an einer der größten Homeofficestudien] während der
       Covid-Pandemie beteiligt, mit mehr als 8.000 Teilnehmer*innen aus acht
       europäischen Ländern. Er beobachtete einen scheinbaren Widerspruch: Einige
       der Befragten gaben an, gleichzeitig mehr Arbeit und mehr Freizeit gehabt
       zu haben. Wie kann das sein? Auf Nachfrage hat Montag schnell Zeit für ein
       Interview, nur bitte am Telefon. Er habe mittlerweile eine
       Videokonferenzmüdigkeit entwickelt.
       
       Montag sagt: 28 Prozent der von ihm Befragten hätten angegeben, ihr
       Arbeitspensum habe sich im Homeoffice erhöht. Gleichzeitig hätten fast 70
       Prozent der Befragten angegeben, flexibler Privates erledigen zu können.
       
       ## Einfach mal einen Gang runterschalten
       
       Montag erklärt die Mehrarbeit damit, dass am Anfang der Pandemie
       Arbeitsprozesse umgestellt und Arbeitsplätze und -routinen neu eingerichtet
       worden seien. Aber auch die Gefahr der Ablenkung und Selbstausbeutung drohe
       zu Hause. Viel Zeit sparten Arbeitnehmer*innen durch den Wegfall der
       Anfahrtswege, auch Arbeitgeber*innen sparten teure Büroflächen.
       
       Unterm Strich habe für die Befragten aber die Zufriedenheit mit dem
       Arbeiten von zu Hause überwogen. „Das Homeoffice wird bleiben“, glaubt der
       Psychologe. Es habe die Arbeitskultur nachhaltig verändert: „Mehr
       Vertrauen, weniger Kontrolle.“ Eine gewisse Präsenz im Büro bleibe dennoch
       wichtig: „Wir sind soziale Wesen, der persönliche Austausch ist durch
       nichts zu ersetzen.“
       
       Unter den von ihm Befragten seien die am Zufriedendsten, die zwei oder drei
       Tage im Homeoffice arbeiteten. Für Christian Montag selbst gilt: Nicht mehr
       als zwei digitale Besprechungen pro Tag, mindestens ein Tag konzeptuelles
       Arbeiten ohne Termine und regelmäßige Zeiten im Büro. Von der Idee, die
       Regeln der Arbeit noch weiter zu lockern und etwa die Arbeitszeit für alle
       zu reduzieren, hält der Psychologe allerdings wenig. „Dazu haben wir zu
       viel zu tun“, findet er, schließlich lebten wir in einer
       wachstumsorientierten Gesellschaft.
       
       Doch die Lockerung während der Pandemie hat bei den Beschäftigten
       weitergehende Sehnsüchte ausgelöst. Der Ausbruch aus der gewohnten
       Arbeitsroutine und Existenzängste in krisengeschüttelten Branchen wie der
       Gastronomie führten dazu, dass viele sich auf einmal vorstellen konnten,
       sich beruflich neu zu orientieren – oder generell weniger zu arbeiten.
       
       Jenseits der Frage Homeoffice oder Büro erfasste viele eine veritable
       Sinnkrise. Wozu sich abstressen und immerzu so viel arbeiten,
       Produktüberschüsse und CO2 produzieren, wenn wir vielleicht alle mal einen
       Gang runterschalten sollten? Und das nicht nur für die eigene Gesundheit –
       sondern auch fürs Klima.
       
       Die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Juliette Schor hat
       herausgefunden, dass eine Senkung der Arbeitszeit um 10 Prozent in einem
       hochindustrialisierten Land wie Deutschland den CO2-Ausstoß um fast 15
       Prozent verringern würde. Viele namhafte Ökonom*innen unterstützen
       inzwischen die Forderung nach einer Reduzierung der Arbeitszeit: Sie könne
       helfen, den Krankenstand zu senken, die Produktivität zu steigern und die
       Betriebe attraktiver zu machen – auch für Menschen, die aus familiären
       Gründen nur Teilzeit arbeiten können.
       
       Dadurch könnte auch der Fachkräftemangel gemildert werden. Auch die großen
       deutschen Gewerkschaften haben die 35-Stunden-Woche in ihre
       Tarifforderungen aufgenommen. Und im Januar startete ein Pilotprojekt mit
       50 Unternehmen aus verschiedenen Branchen, die, wissenschaftlich begleitet
       von der Uni Münster, für ein halbes Jahr die Arbeitszeit bei gleichem
       Gehalt auf vier Tage reduzieren.
       
       Die Idee hat aber auch entschiedene Widersacher in Wirtschaft und Politik.
       Vor allem Vertreter*innen der alten Arbeitswelt glauben noch immer,
       dass die Covid-Periode keine Zäsur war, sondern nur ein Ausreißer – und
       dass jetzt wieder alles werden kann und muss wie zuvor: Kontrolle statt
       Vertrauen, Präsenzkultur statt „New Work“.
       
       ## Freizeitpark Deutschland?
       
       So beorderte VW-Vorstand Thomas Schäfer Blume seine Führungskräfte zum
       Jahresanfang 2024 wieder zurück ins Büro, damit sie zusammen vor Ort „Gas
       geben“ in Zeiten schwächelnder Umsätze. Der Hauptgeschäftsführer der
       Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeber (BDA) Steffen Kampeter, forderte,
       Deutschland brauche wieder „mehr Bock auf Arbeit“, sonst gehe die
       Wirtschaft vor die Hunde.
       
       Die Vier-Tage-Woche hält er für eine „Milchmädchenrechnung“, die den
       Wohlstand gefährde. CDU-Fraktionsvize Jens Spahn sprach unlängst sogar,
       einen Begriff Helmut Kohls zitierend, vom „Freizeitpark Deutschland“.
       
       Er verwies auf die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern weniger
       geleisteten Arbeitsstunden (2022 arbeiteten deutsche Beschäftigte im
       Schnitt 35,3 Wochenstunden, der EU-Durchschnitt betrug 37,5) und forderte
       eine Verlängerung der Arbeitszeit – pro Jahr, aber auch über die gesamte
       Lebensdauer hinweg. Im neuen Grundsatzprogramm der CDU steht die
       „Aktivrente“: pro Jahr gestiegener Lebenserwartung sollen Beschäftigte vier
       Monate länger arbeiten.
       
       Freizeitpark. Kein Bock. Aktivrente. Dahinter steckt die Annahme, wir seien
       auch jetzt schon eine Nation von Faulpelzen. Die Anhänger*innen der
       Faulheitshyphothese unterschlagen allerdings, dass Deutschland eine höhere
       Teilzeitquote hat als andere Länder. Vergleicht man nur die
       Vollzeitarbeitsverhältnisse, liegen die Deutschen mit 40,5 geleisteten
       Arbeitsstunden die Woche voll im EU-Durchschnitt (40,6 Stunden).
       
       Auch Sophie Jänicke von der IG Metall widerspricht beim Videotelefonat
       vehement: Die Deutschen würden nicht weniger leisten. Vielmehr habe die
       Arbeitswelt sich immer mehr verdichtet. Die Produktivität, also das
       Verhältnis zwischen Arbeitseinsatz und Wertschöpfung, sei in Deutschland
       vergleichsweise hoch.
       
       Um den Preis, dass immer mehr Leute längerfristig erkrankten, vorzeitig aus
       dem Erwerbsleben ausschieden und dann weniger Rente bekämen. „Es gibt ein
       großes Bedürfnis nach Entlastung“, sagt sie. Und: „Der Gesetzgeber wäre gut
       beraten, Maßnahmen zur individuellen und kollektiven Arbeitszeitverkürzung
       zu unterstützen.“
       
       Die IG Metall hat für ihre Mitglieder 2018 einen Ausgleich erstritten, die
       Tarifliche Freistellungszeit. Wer in Schicht arbeitet, kleine Kinder hat
       oder Angehörige pflegt, kann wählen: ein zusätzliches Entgelt – oder acht
       freie Tage mehr. Das Instrument sei ein Erfolg, sagt Jänicke, jedes Jahr
       nähmen es rund 400.000 Beschäftigte in Anspruch, gerade die
       Schichtarbeitenden entscheiden sich mehrheitlich für mehr Freizeit.
       „Arbeitszeitreduzierung ist kein Produktivitätskiller, im Gegenteil: Sie
       sichert langfristige Beschäftigung“, sagt Sophie Jänicke.
       
       Trotzdem: Wenn in den kommenden Jahren die Babyboomer-Jahrgänge in Rente
       gehen, könnten bis 2035 rund 7,5 Millionen Menschen auf dem Arbeitsmarkt
       fehlen. Wenn die verbliebenen Arbeitnehmer*innen nicht mehr Vollzeit
       arbeiten wollen, wer soll dann die Arbeit erledigen?
       
       ## Vorbild Skandinavien
       
       Offenbar ist es anders gekommen, als Karl Marx sich das gewünscht hat:
       Technisierung und Maschinen haben uns nicht von der Arbeit befreit. Laut
       dem kürzlich veröffentlichten Fachkräftereport der Deutschen Industrie- und
       Handelskammer kann bereits jeder zweite Betrieb offene Stellen zumindest
       teilweise nicht besetzen.
       
       Wir sind also keine Arbeitsgesellschaft geworden, der die Arbeit ausgeht
       und die sich, ihres Sinns beraubt, um eine leere Mitte dreht, wie [6][die
       Philosophin Hannah Arendt] befürchtet hat. Wir sind im Gegenteil zu einer
       Gesellschaft geworden, in der der Arbeit die Beschäftigten ausgehen.
       
       Und dabei in einer Sinnkrise: Eine Flut englischer Begriffe vom Quiet
       Quitting (Dienst nach Vorschrift) bis Coffee Badging (pro forma morgens
       einstempeln und dann Kaffee trinken gehen) beschreibt die in der
       Arbeitswelt grassierende „latente Unlust“, wie der Autor Mathias Greffrath
       es ausdrückt. Niemand möchte zurück zu einer zerstörerischen Arbeitskultur.
       Arbeit um der Arbeit willen, das war einmal.
       
       Selbst im mittelständischen Handwerk, dem Hort der deutschen Fleißkultur,
       will man inzwischen mehr Freizeit. „Ich wollte mehr vom Wochenende haben“,
       sagt Marie-Antoinette Schleier aus Hessisch Lichtenau am Telefon. Die
       Firmeninhaberin hat deshalb 2021 die Vier-Tage-Woche eingeführt: In der
       Metalljalousien-Firma Franz Rönnau werden nur noch 36 Stunden an vier
       Wochentagen gearbeitet, dazu gibt es 24 Urlaubstage im Jahr. „Ich habe
       gelesen, dass es das in Skandinavien gibt – und wollte es ausprobieren“,
       erzählt sie.
       
       Freitags hat der Laden jetzt zu, die Kunden hätten sich inzwischen daran
       gewöhnt, die Arbeitnehmer*innen auch. An den vier Tagen seien alle
       produktiver. Umsatzeinbußen habe sie nicht, dafür fünf zufriedene
       Mitarbeiter*innen. „Es ist alles eine Frage der Einstellung“, findet
       Schleier. Trotzdem wirbt sie auf der Firmenwebsite nicht mit der
       Vier-Tage-Woche. Sie wolle nicht die falschen Leute anziehen. Den freien
       Freitag gebe es nicht umsonst, der erfordere ein hohes Maß an Disziplin und
       Eigenverantwortung von jedem Einzelnen.
       
       Es gibt Branchen, in denen scheint flexibleres Arbeiten weiterhin ein
       unerreichbarer Traum. Die Patient*innen in Kliniken oder Pflegeheimen
       können nicht im Homeoffice gepflegt werden – sie brauchen
       Vor-Ort-Versorgung rund um die Uhr. Anders als im herkömmlichen
       Schichtsystem ist das nicht zu bewältigen. Oder?
       
       „Es geht auch anders“, sagt Henrik van Gellekom, Pflegedienstleiter des
       Klinikums Bielefeld. Im Juli stellte das kommunale Großkrankenhaus als
       erste Klinik in Deutschland die Arbeit im Pflegebereich um, zunächst
       testweise auf zwei Stationen. Die Unternehmensberatung Rheingans, die auf
       „New Work-Beratung“ spezialisiert ist, begleitet den Prozess mit Workshops
       und Evaluationen. Für ihre eigenen Leute hat die Agentur die
       25-Stunden-Woche und den 5-Stunden-Tag bei vollem Gehalt eingeführt. Ganz
       so weit geht man im Klinikum nicht. Doch in der Pflege sind bereits 38,5
       Stunden Wochenarbeitszeit an vier Tagen eine kleine Revolution.
       
       Eine Schicht dauert jetzt mit neun Stunden länger, dafür gibt es eine
       Verdopplung der freien Tage und längere personelle Überschneidungen und
       damit Übergabezeiten: Statt 30 Minuten sind es jetzt 2,5 Stunden – ein
       echter Zugewinn für Pflegende wie Gepflegte, wie van Gellekom sagt: „Die
       eigentliche Arbeit bekommt mehr Raum. Da ist jetzt plötzlich Zeit, in einer
       ruhigen Ausbildungssituation zum Beispiel einen Katheter zu wechseln mit
       einem Schüler, für ein längeres Patientengespräch oder die Dokumentation.“
       
       Stolz teilt der Pflegedienstleiter am Bildschirm einen der neuen
       Dienstpläne, die er zusammen einer Stationsleitung und
       Mitarbeiter*innen erstellt hat. Eine Vollzeitkraft hat jetzt nicht
       mehr elf Tage Dienst am Stück und dann drei Tage frei, sondern, je nach
       individuellem Bedarf, eine bis sechs Tage Dienst und dann ebenso viele Tage
       frei. Ein enormer Freizeitgewinn, der allerdings auch viel
       Selbstorganisation verlangt. „Anfangs waren viele skeptisch“, sagt van
       Gellekom. Aber die meisten wollten die neue Flexibilität nicht mehr missen.
       Zwar habe sich der Personalbedarf um zehn Prozent erhöht, aber die
       Attraktivität der Jobs sei gestiegen. Es seien mehr Leute dazu gekommen,
       als die Station verlassen hätten – für den Pflegeberuf, dem viele
       Fachkräfte in den letzten Jahren den Rücken gekehrt haben eine sehr gute
       Bilanz.
       
       Gerade für Mitarbeitende in Teilzeitjobs lohne sich das neue Modell, sagt
       van Gellekom. Sie hätten jetzt die Möglichkeit, aufzustocken, mehr zu
       verdienen und trotzdem Zeit für die Familie oder Hobbys zu haben. Andere,
       die nur wenige Stunden arbeiten könnten, könnten selbst mit drei
       Wochenstunden einsteigen. „Arbeit haben wir genug. Wir müssen sie nur gut
       organisieren.“ Er ist überzeugt, dass sein Arbeitsmodell sich in der
       Pflegebranche und Gesundheitseinrichtungen durchsetzen wird.
       
       Auch Florian Domberger findet: „Die Arbeitskultur muss anders werden!“
       Ausgebrannte Chefs und unzufriedene Mitarbeitende, das müsse nicht sein.
       Der Bäcker steht im Hinterzimmer seiner Bäckerei in Berlin-Moabit. Vorne
       schiebt eine Mitarbeiterin Brote, Brezeln und Mohnschnecken über den
       Tresen, in der offenen Backstube formen andere den Sauerteig, mit dem sich
       das „Domberger Brot Werk“ einen Namen gemacht hat. Domberger hat sich das
       Backen selbst angeeignet, aus einer Leidenschaft für gutes Brot und aus
       Verzweiflung über die, wie er findet, schlechte Versorgung mit guten
       Backwaren.
       
       Früher war er mal Spediteur, Einkäufer, seit 1991 ist er Bundeswehrleutnant
       der Reserve, woran sein Outfit erinnert: Hellblaues Uniformhemd mit dem
       runden Domberger-Logo auf der Brust, dazu dunkelblaue Drillichhosen. „Ich
       hasse diese Pepita-Bäckerhosen“, ruft er. Da kriege ihn keiner rein.
       Überhaupt bestehe das deutsche Bäckerhandwerk aus jeder Menge alberner
       Folklore. Wo bitte stehe zum Beispiel geschrieben, dass ein Bäcker zu
       nachtschlafender Zeit in der Backstube stehen müsse, um ein Roggenbrot in
       den Ofen zu schieben?
       
       „Der deutsche Bäcker als Held der Nacht, das braucht wirklich kein Mensch
       mit ein bisschen intelligenter Unternehmensführung!“ Dombergers Trick ist
       das handwerkliche Backen mit Natursauerteig. Auf tiefgefrorene Teiglinge
       oder künstliche Triebmittel verzichtet er. Das sei nicht nur besser für die
       Gesundheit, sondern verschaffe ihm und seinen Mitarbeiter*nnen bei
       guter Planung auch mehr Luft: Durch die sehr langen Gehzeiten können die
       Backwaren abends in Ruhe vorbereitet werden für das Einschießen am Morgen.
       
       Um 6 Uhr beginnt im Brot-Werk die Frühschicht, um acht öffnet der Laden,
       außer am Sonntag, da ist zu. Und am Montag ist nur von 15 bis 18 Uhr
       geöffnet. Wenn offen ist, steht alles bereit, die Brötchen und Brezeln, die
       badischen Seelen mit Kümmel, die mehlbestäubten Vinschgauer, das Süßgebäck.
       Das Brot kommt dann halt ein bisschen später in den Verkauf. Zwölf Leute
       arbeiten in zwei Schichten, im Winter etwas länger, im Sommer werden
       Überstunden abgefeiert. Die im Bäckereihandwerk sonst üblichen
       Nachtzuschläge gleicht Domberger durch einen erhöhten Stundenlohn aus, und
       viel persönliche Freiheit. „Wann einer backt, ist mir schnurz“, sagt er.
       Hauptsache, Qualität und Menge stimmten.
       
       ## Der Laden läuft auch ohne den Chef
       
       Was ihn bei angehenden Bäcker*innen außerdem so beliebt macht: Während
       in herkömmlichen Betrieben eine strikte Hierarchie herrscht (nur der
       Altgeselle darf den Ofen bedienen), lernen bei ihm alle alles und bekommen
       sukzessive die volle Verantwortung übertragen.
       
       Die Gesellen- oder Meisterprüfung können sie bei Domberger nicht erwerben,
       aber das spiele eigentlich keine Rolle: Fünf Leute hätten sich bereits
       selbständig gemacht, die Personalsituation im Betrieb sei „sehr, sehr gut“,
       er könne sich vor Anfragen kaum retten. Er sei jedes Jahr zwei bis drei
       Monate weg – „und der Laden läuft.“ Er breitet die Arme aus: „Geil!“
       
       Ja, was könnte geiler sein als eine Arbeit, die auf die Bedürfnisse des
       Einzelnen angepasst ist und Raum für Kreativität, Muße und Erholung bietet?
       Bei den Worten Kreativität und Erholung hätte mein Onkel vermutlich die
       Augen verdreht. Sein Lieblingsspruch lautete nicht von ungefähr: „Das Leben
       ist eins der härtesten.“
       
       Doch mit schmissigen Sinnsprüchen lassen sich viele heutige
       Arbeitnehmer*innen nicht mehr abspeisen. Dafür ist die Mehrheit von
       ihnen zu erschöpft von der alten Arbeitswelt und zugleich fasziniert von
       den Möglichkeiten eines flexibleren und selbstbestimmteren Arbeitens.
       
       Die Krise der Arbeit wird nicht mehr weggehen: Sie ist keine bloße
       Coronafolge, sondern Teil eines größeren Umbruchs. [7][Prognosen zufolge]
       wird Künstliche Intelligenz in Industrienationen bis zu 60 Prozent der Jobs
       verändern – und der Klimawandel wirft mit zunehmender Dringlichkeit die
       Frage auf, ob Produktivität und Wirtschaftswachstum auch in Zukunft noch
       die wichtigsten Kennzahlen sein werden.
       
       In dieser Lage ist es sogar eher beruhigend, dass sich viele Beschäftigte
       im arbeitsfixierten Deutschland offenbar ganz gut ein Leben abseits der
       Arbeit vorstellen können. Und darüber nachzudenken, wie ein produktives
       Leben und Arbeiten ohne Eieruhr aussehen kann.
       
       20 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Generation-Z-und-Arbeitsmoral/!5979594
   DIR [2] /Praxisversuch-zur-Viertagewoche/!5958173
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=9EKkBOFEL_0
   DIR [4] /Workstation-was-ist-das/!5177365
   DIR [5] https://www.uni-ulm.de/in/fakultaet/in-detailseiten/news-detail/article/videokonferenz-muedigkeit/
   DIR [6] /Neue-Biographie-ueber-Hannah-Arendt/!5964063
   DIR [7] https://www.deutschlandfunk.de/kuenstliche-intelligenz-wird-arbeitswelt-veraendern-einkommensungleichheit-koennte-sich-verschaerfen-100.html
       
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