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       # taz.de -- Statt Veganismus: Neuer Vertrag von Mensch und Tier
       
       > Bei der Grünen Woche in Berlin geht es auch ums Tierwohl. Doch die
       > Debatte kommt nicht voran. Ein neuer Vorschlag.
       
   IMG Bild: Fleisch findet Tier nicht gut
       
       Über den Tellern ist längst ein Kampf der Weltanschauungen entbrannt:
       Während die einen aus ethischen Gründen mehr und mehr die pflanzliche
       Ernährung favorisieren, sehen andere im denkbaren Verlust der Bratwurst
       ihre Freiheitsrechte in Gefahr. [1][Markus Söder malte im letzten Jahr gar
       das Schreckgespenst der „Zwangsveganisierung“ an die Wand.] Spätestens der
       Weihnachtsbraten dürfte durch die Diskussionen am Tisch manchem übel
       aufgestoßen sein.
       
       Wer jedoch bei den Debatten für oder gegen Fleischverzehr stets fehlt, sind
       die Betroffenen. Die Rede ist von den Tieren in der Landwirtschaft. Bei den
       Bauernprotesten ging es auch um die Abgabe zu ihrem Wohl, sie sind immer
       wieder Thema und das sicher auch auf der [2][Grünen Woche], die bis 28.
       Januar in Berlin stattfindet.
       
       Im Schatten von [3][Cem Özdemirs Stufenmodell], das die meisten
       Tierschutzorganisationen zu Recht kritisieren, weil es die ohnehin
       verfassungsrechtlich grenzwertige Haltungsstufe eins legitimiert (anstatt
       sie abzuschaffen), dürften die alten und ermüdenden Auseinandersetzungen
       geführt werden. Über einige Zentimeter mehr Stallfläche, über gutes Futter,
       überhaupt über mehr „Tierwohl“, das ja angeblich jeder will.
       
       ## Systemwechsel statt Bekenntnisprosa
       
       An Bekenntnisprosa mangelt es auf derartigen Treffen nie. Dabei kann all
       die Stellschraubendreherei nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass ein
       Systemwechsel nötig ist. Viele Argumente sind bekannt: Der Konsum von
       tierischen Produkten, allen voran Fleisch, Milch, Käse und Eiern, ist ein
       veritabler Klimakiller. Mit Tiertransporten, der Abholzung der Regenwälder
       für die Futtermittelproduktion samt der damit verbundenen Auslaugung der
       Böden besetzt die Landwirtschaft einen traurigen Spitzenplatz bei den
       globalen Emissionen, über den im Streit über die Klimawende nur marginal
       geredet wird.
       
       Was jenseits dieser Umweltfaktoren ins Gewicht fällt und von der Politik
       vollends missachtet wird, sind die Einsichten aus der Ethik. Nicht erst
       seitdem Peter Singer den Begriff des Speziesismus etabliert hat, der –
       analog zu anderen Diskriminierungstatbeständen unserer Zeit – die Abwertung
       einer Kreatur aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Spezies beschreibt, sehen
       Philosophen die Unterdrückung von Tieren kritisch. Ein ganzer Animal turn
       lässt sich in der Debatte verzeichnen.
       
       In neueren Büchern von Friederike Schmitz, Christine Korsgaard oder Bernd
       Ladwig vernimmt man immer wieder das Plädoyer für die umfassende Abkehr vom
       anthropozentrischen Prinzip. Nachdem, vereinfacht gesagt, die
       Neurowissenschaften und die behaviouristische Forschung des 20.
       Jahrhunderts sämtliche Kriterien, die angeblich den Menschen vom Tier
       trennen sollen, abgeräumt haben, stellt sich für die Theoretiker:innen
       die Frage:
       
       Wie kann man die aktuelle Entrechtung von Tieren, die noch nie zuvor so
       großes Leid wie in den industrialisierten Aufzucht- und Schlachtfabriken
       erfahren haben, noch rechtfertigen? Ihre Antwort: gar nicht. Schon der 2017
       verstorbene Tom Regan, umstrittener und gefeierter Pionier auf dem Feld
       der Tierethik, ging davon aus, dass sowohl die humanen als auch die meisten
       animalen Wesen ein unhintergehbares Interesse am Weiterleben haben.
       
       ## Man stelle sich vor: Hasen halten uns in Käfigen
       
       Für ihn war nicht die lange Zeit als K.-o.-Kriterium firmierende
       Moralfähigkeit des Menschen entscheidend, um darüber Tiere von
       fundamentalen Grundrechten auszuschließen, zumal sie ohnehin nur ein von
       Menschen formuliertes Verdikt sei. Der Denker vertrat zu Recht die Ansicht,
       dass sämtliche in der Vergangenheit entstandenen Abgrenzungsparadigmen
       willkürlich seien.
       
       Man stelle sich nur einmal umgekehrt vor, wir würden auf einem fremden
       Planeten von Hasen in Käfigen gehalten werden, die ihre Herrschaft allein
       mit ihrer besseren Hörfähigkeit begründeten. Wir würden diese Ordnung
       nachvollziehbarerweise als ungerecht empfinden. Aber selbst wenn wir die so
       viel beschworene Moralfähigkeit, die einige den sogenannten Nutztieren
       absprechen, ins Feld führen, macht etwa Bernd Ladwig in seiner „Theorie der
       Tierrechte“ auf die Schwäche dieser Konstruktion aufmerksam.
       
       Denn genießen nicht auch Menschen, die etwa aufgrund von Krankheiten oder
       Behinderungen selbst keine moralischen Entscheidungen fällen können,
       trotzdem die vollen Menschenrechte? Allein die Kompetenz in diesen Belangen
       kann nicht als hinreichende Begründung für den Ausschluss von Vierbeinern
       aus der ethischen Gemeinschaft dienen. Daher fokussiert der Philosoph auf
       Moralbedürftigkeit, sie stellt die Voraussetzung für Moralfähigkeit dar.
       Und sie eint die Menschen und die Tiere.
       
       Wir alle sind verletzlich und bedürfen eines Schutzes, wir alle wollen
       leben und setzen darauf, dass der oder die andere unsere körperliche und
       seelische Integrität wahrt. In sich bilden derlei Ansätze schlüssige
       Argumentationsketten. Sie wettern unisono gegen eine tradierte Zweiteilung
       der Welt, wie sie auch andere Machtstrukturen der Geschichte – vom
       Rassismus bis zum Sexismus – propagiert und verfestigt haben.
       
       ## Männer essen doppelt so viel Fleisch wie Frauen
       
       Bemerkt man die Ähnlichkeiten, kann man übrigens ebenso in der
       organisierten Repression gegenüber animalen Mitwesen eine patriarchale
       Dominanz ausmachen. Männer essen im Schnitt doppelt so viel Fleisch wie
       Frauen. Vermutlich weil noch immer der Mythos durch die Gehirne spukt:
       Körperliche Stärke – ja, Virilität, wie sie Jäger und sämtliche harte Kerle
       auszeichnet – erlangt nur, wer reichlich tierische Proteine zu sich nimmt.
       
       Ein weiterer Irrglaube, den Weltschwergewichtsmeister eindrucksvoll
       beweisen: Einige von ihnen sind Veganer. Erkenntnisse aus den Animal- und
       Gender Studies haben demnach einiges gemein. Doch ein Unterschied lässt
       sich zwischen dem Tierrechtsaktivismus und den feministischen Bewegungen
       nicht leugnen: Letztere sorgten nach langen Grabenkämpfen für eine neue
       Aushandlung der Beziehung zwischen den Geschlechtern.
       
       Folgt man hingegen konsequent Tom Regans Logik, so kann man – in der
       sogenannten idealen Theorie der Tierethik – nur zu einem Schluss kommen:
       Öffnet alle Käfige und befreit die Leidenden! Auf die unrealistische
       Dimension dieses Vorschlags hingewiesen haben die amerikanischen
       Sozialwissenschaftler Sue Donaldson und Will Kymlicka in ihrem Opus magnum
       „Zoopolis“. Indem wir alle Fesseln lösen, würde es keine
       speziesübergreifende Koexistenz mehr geben.
       
       Warum sollte beispielsweise eine Kuh ihr Kalb oder ihre Milch hergeben?
       Fakt ist aber: Die Beziehung zwischen Mensch und Tier muss nicht unbedingt
       aufgekündigt werden, sie muss nur neu geregelt werden. Die Autor:innen
       entwickeln dafür eine Staatstheorie, in der sie verschiedenen animalen
       Gruppen unterschiedliche Privilegien (bis hin zu Bürgerrechten) zuerkennen.
       Auch in diesem Ansatz verfügen alle über ein elementares Lebensrecht.
       
       ## Utopie und Wirklichkeit gehen zusammen
       
       Utopie und Wirklichkeitsbezug liegen in diesem hellsichtigen Werk eng
       beieinander. Zur Wahrheit gehört aber: Dass wir von all diesen Entwürfen
       bei weltweit wachsendem Konsum tierischer Produkte Äonen entfernt sind.
       Daher gilt es, andere Möglichkeiten auszuloten. Es bedarf eines
       Gesellschaftsvertrags. Tiere brauchen – analog zu Menschen mit kognitiven
       Einschränkungen – Anwält:innen und Fürsprecher:innen, die ihren
       Belangen Gehör verschaffen.
       
       Diese müssten in Tierrechtsfragen geschult sein und sollten von Gremien aus
       Ethiker:innen, Politiker:innen und Vertreter:innen von
       Tierschutzorganisationen bestimmt oder gewählt werden, vergleichbar auch
       mit Gleichstellungsbeauftragten. Ihre Aufgabe sollte darin bestehen, für
       tierische Belange zu sensibilisieren. Sie müssten auf allen Ebenen
       vertreten und in Unternehmen genauso etabliert sein wie in Parlamenten und
       Ministerien, wo man ihnen eine Art Vetorecht gewähren müsste. Sie dürften
       es bei allen Entscheidungen einlegen, die die Interessen von Tieren
       fundamental berühren.
       
       Dieser Zwischenschritt auf dem Weg in die Utopie einer gänzlich
       pflanzenbasierten Ernährungskultur in der Ethik sollte dringend in Erwägung
       gezogen werden. Dieses Modell könnte vorsehen, Tiere nicht mehr töten zu
       dürfen, aber einen Teil ihrer Produkte weiterhin zu verwerten. Wir könnten
       Eier konsumieren, müssten aber auch den „irrentablen“ Hühnern eine Art
       Rentenzeit zubilligen, wir könnten Milch kaufen, müssten dafür allerdings
       die männlichen Kälber aufziehen. Lediglich Fleisch gäbe es in dieser
       Ordnung nicht mehr.
       
       Da den Tieren ein qualitativ angemessenes Dasein zustünde, bei dem sie
       einem natürlichen Tod erlägen, würde dieses Modell des
       speziesübergreifenden Miteinanders eine Menge Geld kosten. Die limitierten
       Produkte wären teurer. Moral gibt es eben nie zum Nulltarif. Alle ethisch
       relevanten Maßnahmen kosten etwas: Sei es Schwangerschaftsabbruch oder
       Sterbehilfe – zumeist sind solche gesellschaftspolitischen und
       kulturelleren Regelungen mit einem Zuwachs an Institutionen zur Überwachung
       und Beratung geknüpft. Dasselbe gilt für den Minderheitenschutz.
       
       ## Moral kostet Geld
       
       Er setzt sich nur durch, wenn Personen und Einrichtungen für bestimmte
       Gruppen professionell Partei ergreifen. Auch Tierrechte sollten uns das
       wert sein. Ausgaben für ihre Durchsetzung würden sich als dringende
       Investition gegen einen weithin versteckten und oft verdrängten
       gewaltvollen Konflikt mit ungleichen Waffen inmitten unserer westlichen
       Zivilisation erweisen.
       
       Ein speziesübergreifender Frieden käme zum einen den tierischen Mitwesen
       zugute, zum anderen aber auch uns selbst, würden wir uns damit doch einer
       Eigenschaft vergewissern, die uns tatsächlich exklusiv auszeichnet: unsere
       Menschlichkeit.
       
       20 Jan 2024
       
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