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       # taz.de -- Über die Neuausrichtung der Agrarpolitik: Der ineffiziente Bauer
       
       > Johann Gerdes geht jedes Jahr auf die „Wir haben es satt“-Demo. Auf
       > seinem Biohof kämpft der Landwirt für eine Neuausrichtung der
       > Agrarpolitik.
       
   IMG Bild: Johann Gerdes auf der „Wir haben es satt“-Demonstration in Berlin am 20. Januar 2024
       
       Beerfelde/Brandenburg taz | Der grüne Traktor tanzt über den Hof und streut
       Heu auf den schneebedeckten Schlamm. Rückwärts, vorwärts. Schnell, präzise.
       Das goldene Stroh regnet auf den weißen Boden. Es sieht aus wie ein
       filigranes Meisterwerk. Auch die Kühe spielen ihre Rolle: Einige tanzen mit
       und recken sich in die Luft. Andere bleiben liegen, stehen still oder
       fressen weiter. Routiniert. Geübt. Traktor und Kuh in einem mondänen
       Ballett.
       
       Johann Gerdes wiederholt die Choreografie dreimal, bis die Kuhweide mit
       frischem Stroh bedeckt ist. Erst beim letzten Mal unterbricht er die
       Routine. Eine Kuh schaut neugierig zu. Sie will Antworten oder
       Aufmerksamkeit. Gerdes bleibt kurz stehen und streichelt sie. Dafür muss
       noch Zeit sein.
       
       Er ist ein Landwirt in Brandenburg. Er hat 40 Mutterkühe, die jedes Jahr
       Kälber zur Welt bringen. Wenn sie 2,5 Jahre alt sind, werden sie
       geschlachtet. Biofleisch vom [1][Beerfelder Hof in Brandenburg] steht dann
       auf der Verpackung. Reich wird man als Biobauer nicht. Schon gar nicht als
       Bio-Rindzüchter. Aber die Kühe schließen eine wichtige Lücke im
       Kreislaufmodell auf Gerdes Hof. „Sie sind auch eine schöne Abwechslung“,
       sagt er. „Wir haben sonst nur mit Maschinen zu tun.“
       
       Damit gehört Johann Gerdes zu einer Seltenheit in Deutschland: ein
       Landwirt, der auf Qualität und nicht auf Quantität setzt. Ein Landwirt, der
       Wohlstand nicht nur monetär begreift. In den letzten 20 Jahren ist die
       Landwirtschaft gewachsen oder gewichen, hat sich auf Effizienzsteigerung
       und Industrialisierung konzentriert. Gerdes aber nicht.
       
       ## Jedes Jahr auf der „Wir haben es satt“-Demo dabei
       
       Deshalb geht er jedes Jahr auf die „Wir haben es satt“-Demonstration.
       Organisiert wird sie von einem Bündnis aus 100 Akteur:innen aus dem
       landwirtschaftlichen und sozialen Bereich sowie der Klima- und
       Umweltbewegung. Die zentrale Forderung ist eine klima- und sozialgerechte
       Agrarwende.
       
       Und so ist es auch diesem Samstag, dem 20. Januar 2024. Die Straßen Berlins
       werden wieder einmal von hupenden Traktoren erobert. Diesmal aber nicht mit
       Forderungen nach einer Senkung der Dieselsteuer oder einer
       Steuererleichterung für landwirtschaftliche Fahrzeuge. Diesmal nicht mit
       Slogans, die rechte Akteur:innen für sich instrumentalisieren können.
       Diesmal geht es um die grundsätzliche Frage: Wie sieht die Zukunft der
       Landwirtschaft aus?
       
       „Das Thema der Zeit heißt Nachhaltigkeit und Klimaschutz“, sagt Finn
       Beutler, 20-jähriger Landwirtschaftslehrling aus dem Raum Hamburg, bei der
       „Wir haben es satt“-Demo. „Wir müssen ökologischer werden. Da die
       Landwirtschaft große Flächen bewirtschaftet, ist sie der Hebel, um etwas zu
       bewirken. CO2 binden und die Artenvielfalt stärken: Das alles kann draußen
       auf den Flächen passieren, es muss nur gemacht und unterstützt werden. Das
       ist die Kraft, die die Landwirtschaft hat“, erklärt er weiter.
       
       Johann Gerdes steht bei der [2][„Wir haben es satt“-Demonstration] ganz
       vorne. Gestern Nachmittag hat er seine Tochter in seinen Traktor gepackt
       und ist von Fürstenwalde nach Berlin gefahren. Heute steht das blaue
       Fahrzeug vor dem Willy-Brandt-Haus, aufgereiht in einer Kolonne von alten
       und neuen, großen und kleinen Traktoren. Sie tragen Aufschriften wie
       „Landwirtschaft ist bunt, nicht braun“ oder „Bäuerliche Vielfalt schützt
       das Klima“.
       
       ## Fünf Betriebe in Brandenburg liefern Kartoffeln nach Berlin
       
       24 Stunden zuvor sitzt er in dem Aufenthaltsraum des Beerfelder Hofs.
       Draußen riecht es nach Kachelofen. Die Gebäude werden alle noch mit Holz
       beheizt. Drinnen riecht es nach verbranntem Toast. Ralf sitzt Gerdes
       gegenüber und bestreicht sein Frühstücksbrot: Bauernbrot, Butter, Salami
       und eine Gurke. Johann Gerdes und sein jetziger Kollege kennen sich seit
       2015. Damals waren sie beide noch Mitarbeiter auf einem anderen Hof. Als
       Gerdes seinen Hof kaufte, kam auch Ralf mit.
       
       Zur Erntezeit passen nicht alle Mitarbeiter:innen in den
       Aufenthaltsraum. Während die meisten Betriebe auf Automatisierung und
       maschinelle Unterstützung umstellen, hat Gerdes immer noch
       überdurchschnittlich viele Mitarbeiter:innen. Auch in den Wintermonaten.
       Sie machen Überstunden oder nehmen sich Urlaub. Oder sortieren Kartoffeln.
       
       Fünf Betriebe in Brandenburg liefern Kartoffeln nach Berlin. Der Beerfelder
       Biohof ist einer von ihnen. Es riecht nach kalter Erde in der Lagerhalle
       hinter dem Aufenthaltsraum. Ein grünes Licht erhellt die Halle. Die
       Kartoffeln sind bis zur Decke in Holzkisten gestapelt. Der Raum ist auf
       genau vier Grad gekühlt, um den Stoffwechsel zu verlangsamen. Hier
       sortieren die Mitarbeiter:innen die Ware. Die guten Kartoffeln landen
       schließlich in den Küchen von Berlinern. Die schlechten wandern in den Trog
       auf dem Hof.
       
       Doch wie sieht denn nun die Zukunft der Landwirte aus? Thilo Lenzen,
       Aktivist bei der „Wir haben es satt“-Demo, erklärt: „Die Landwirtschaft
       sollte die Menschen verbinden. Wir alle brauchen Lebensmittel.“ Er führt
       fort: „Ohne die Produktion von Lebensmitteln gäbe es uns alle nicht.“
       
       ## „Die Luft wird immer dünner“
       
       Johann Gerdes bleibt kurz vor dem Brandenburger Tor stehen und blickt die
       Straße des 17. Juni hinunter. Vor einer Woche zündeten erzürnte Bauern hier
       Lagerfeuer an und man hörte Buhrufe, als Finanzminister Christian Lindner
       (FDP) versuchte, sie zu adressieren. Gerdes hatte eigentlich mit einer
       Konfrontation zwischen den beiden Lagern gerechnet. Doch die Allee ist nun
       leer. Nur ein einziger roter Traktor steht auf der linken Seite geparkt.
       
       [3][Er versteht die Bäuer:innen, die seit Wochen hier kampieren.] Auch er
       würde 14.000 Euro im Jahr verlieren, wenn die Dieselsubvention gestrichen
       wird. „Hättet ihr immer an der ‚Wir haben die Schnauze voll‘-Demonstration
       teilgenommen, hätte die Politik das wohl früher gemerkt“, sagt er und
       deutet auf die leere Straße. Die Bäuer:innen, die in den vergangenen 20
       Jahren vom Prinzip „Wachse oder weiche“ profitiert haben, stoßen nun an die
       Grenzen des Wachstums. „Auch für sie wird die Luft immer dünner“, sagt
       Johann Gerdes.
       
       Lea Leimann, Vorstandsmitglied von Slow Food Deutschland, ist ebenfalls vor
       Ort und will wissen, warum die Landwirtschaft immer effizient sein muss.
       „Warum geht es nur darum, größer, reicher, mehr zu werden? Warum arbeiten
       wir nicht so, dass es uns, dem Land und den Tieren gut geht?“, fragt sich
       die Aktivistin. „Das ist es, wonach wir streben sollten. Effizienz stellt
       sich dann automatisch ein, weil es uns gut geht und wir uns für den
       Wohlstand einsetzen. Unser Credo sollte sozialer Wohlstand sein“, sagt sie.
       
       Gerdes wünscht sich mehr Zeit und Geld für die Gestaltung der
       Landwirtschaft. „Ich glaube nicht, dass große, zusammenhängende
       Ackerflächen gut für die Ökologie sind“, sagt er. „Wir haben keine Hecken,
       keine vernetzten Biotope.“ Doch dafür gibt es kein Geld. Die Agrarpolitik
       von Bundesregierung und Bauernverband setzt auf Größe und Effizienz – und
       nicht auf Maßnahmen, die eine gesunde Zukunft für Bäuer:innen und
       Landschaft garantieren.
       
       „Wir wollen uns eine ineffiziente Landwirtschaft leisten können“, sagt
       Gerdes. Er meint damit eine Landwirtschaft, die auch für
       Kleinbäuer:innen möglich ist. Eine Landwirtschaft, die vielfältige
       Betriebe unterstützt. Derzeit gelingt es Gerdes noch, einen ineffizienten
       Betrieb zu führen. Sollte das irgendwann einmal nicht mehr möglich sein,
       will er Lkw-Fahrer werden. „Wenn es nicht mehr möglich ist, eine gute
       Landwirtschaft zu betreiben, dann kann ich auch die Sportart wechseln“,
       sagt er und schmunzelt.
       
       21 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.regionalwert-berlin.de/unsere-partner/beerfelder-hof/
   DIR [2] /Wir-haben-es-satt-fordert-Agrarwende/!5986750
   DIR [3] /Agrarunternehmer-ueber-Bauerndemos/!5984047
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Clara Suchy
       
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