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       # taz.de -- Meredith Monk in München: Sprache als Form
       
       > Meredith Monk ist Grenzgängerin der Künste seit den 1960er Jahren. Das
       > Haus der Kunst widmet der 81-jährigen New Yorkerin nun eine große
       > Werkschau.
       
   IMG Bild: Monk mit ihren „16 Millimeter Earrings“ von 1966 (Ausschnitt)
       
       „Blues for Tom / New York Requiem“ heißt eine Komposition von Meredith Monk
       für Tom Bogdan. Bogdan war Sänger ihres 1978 gegründeten Vocal Ensembles.
       Er hatte in den 1980er Jahren bei vielen Beerdigungen von Freunden
       gesungen, die an HIV verstorben waren, und sie um ein Requiem gebeten.
       „Blues for Tom / New York Requiem“ ist eine der wenigen notierten
       Kompositionen Monks, von Hand geschrieben mit weichem Bleistift, und
       erschienen 1993 beim Münchner Label ECM.
       
       Ihr Requiem basiert nicht klassisch auf dem siebenteiligen liturgischen
       Text vom Introitus bis zum Lux aeterna. Monk verwendet Silben ohne
       spezifische Bedeutung, die sie als „Phoneme“ bezeichnet. „Worte“, so Monk,
       „weisen auf eine bestimmte Bedeutung hin. Ich mag Bilder oder Gesten, die
       etwas hervorrufen, aber eher eine Poesie der Sinne sind. Ich versuche, zu
       einer wesentlichen Kommunikation zu gelangen.“ Der Titel des Stücks benennt
       auch die gleichnamige Installation mit Flügel und Mikrofon, die gerade in
       ihrer bisher größten Retrospektive „Meredith Monk. Calling“ im Münchener
       Haus der Kunst zu sehen ist.
       
       Meredith Monk wurde 1942 in New York in eine Familie von Sänger*innen
       hineingeboren. In der Umgebung der Fluxus- und Happening-Bewegung der New
       Yorker Downtown-Szene begann sie als Performancekünstlerin, experimentierte
       dank ihrer drei Oktaven umfassenden Stimme mit Lauten und Klängen,
       arbeitete dabei mit Video und kinetischen Bewegungen. Als Kind litt Monk
       unter einer Sehstörung. Sie spielte Klavier und entwickelte früh Methoden
       der räumlichen Wahrnehmung. Beeinflusst von der Dalcroze-Eurhythmie,
       beschäftigte sie sich damit, rhythmische Bewegung, Gehörbildung und
       Improvisation über den Körper zu wecken.
       
       1964, als 22-Jährige, zog sie in das damals brachliegende Viertel unterhalb
       der 14. Straße in Manhattan. Die Mieten waren niedrig, eine alternative
       experimentelle Kunstszene hatte sich dort gebildet. [1][Laurie Anderson],
       [2][Trisha Brown], [3][Joan Jonas] oder Gordon Matta-Clark lebten dort.
       Monk führte interdisziplinäre Performances, die Theater, Tanz, Musik und
       Film verbanden, auf der Straße, auf Gebäuden oder in privaten Wohnungen
       auf.
       
       ## Fluxus und Happening in Manhattan
       
       Sie arbeitete auch in der Judson Memorial Church, die zu der Zeit einer New
       Yorker Kunstavantgarde ihre Räume anbot, ehe Galerien es taten. Dazu
       gehörte auch das Judson Dance Theatre mit Tänzer*innen und
       Choreograf*innen wie Trisha Brown, Lucind Childs, Steve Paxton oder
       Yvonne Rainer. 1968 gründete sie The House zur Förderung interdisziplinärer
       Performance und zehn Jahre später das Meredith Monk & Vocal Ensemble.
       
       In ihrer Performance „Juice: A Theatre Cantata in Three Installments“, 1969
       im Guggenheim Museum aufgeführt, und in ihren immer textlosen Opern
       „Quarry“ von 1976 oder „Atlas“ von 1993 trat sie selbst auf und sang. Ab
       1981 begann sie ihre Serie der „Shrines“, angelehnt an die Idee
       buddhistischer Schreine, in denen sie sich mit menschlichen
       Verhaltensweisen und Umweltfragen beschäftigt.
       
       Die Ausstellung in München, ergänzt durch die parallel in der Oude Kerk in
       Amsterdam gezeigte Monk-Retrospektive ihrer Videoarbeiten, erweitert ihre
       erste umfassende Retrospektive im Walker Art Center 1998, als sie zum
       ersten Mal darüber nachdachte, wie sich ihre Arbeitsweise als Installation
       darstellen lässt. So gibt es in der Ausstellung mehrere Iterationen früher
       Arbeiten, die ursprünglich als Performance und Videoarbeit konzipiert waren
       und für die sie später ein weiteres darstellendes Format entwickelte, wie
       in der frühesten gezeigten Arbeit der Ausstellung „16 mm Earrings“
       (1966/1998).
       
       Monk selbst beschreibt diese Arbeit als ihren künstlerischen „Durchbruch“,
       bei der sie zum ersten Mal mit verschiedenen medialen Ebenen wie Kostüm,
       Bühnenbild, Performance, Video und Stimme gearbeitet hatte. Wie die
       meisten ihrer frühen Arbeiten aus der Zeit, thematisiert sie ihre
       persönliche Geschichte. Vergrößerungsgläser vor ihren Augen verweisen auf
       eine in der Kindheit erkannte Sehstörung, visuell nicht räumlich
       wahrnehmen zu können, was ihre körperliche Koordination beeinflusste. Die
       Dalcroze-Technik mit Tanz, um Räume durch Bewegung zu erkunden, half ihr,
       damit umzugehen.
       
       ## Reichs männlicher Orgasmus, Monks weibliche Lust
       
       In der Performance spielt sie mit weiblichen Rollenbildern aus
       Märchenerzählungen, agiert bewusst kindlich und liest aus Wilhelm Reichs
       „Die Funktion des Orgasmus“. Der österreichische Psychoanalytiker und
       Freud-Schüler hatte seine Arbeit über die gesundheitliche Notwendigkeit des
       (männlichen) Orgasmus 1927 veröffentlicht. Monk übertrug dies auf die
       weibliche Lust.
       
       Die Ausstellung beginnt mit der Außenarbeit „Offering Shrine“, einem Video
       von 2023, das sich öffnende Hände verschiedener Personen zeigt. Jeweils ein
       persönlicher Gegenstand wird in ihnen dargeboten. Es sind vertrauensvolle,
       berührende Gesten, die von Monks Gesang aus ihrem 1994 erschienenen Album
       „Volcano Songs“ begleitet werden. Dieser setzt sich im Treppenaufgang fort
       und begleitet die Besuchenden zu den Ausstellungsräumen.
       
       Eine der weiteren frühen Arbeiten ist die dreiteilige, ortsspezifische
       Performance „Juice: a theatre cantata in three installations“ von 1969, die
       im Laufe eines Monats dreimal an verschiedenen Orten aufgeführt wurde: im
       New Yorker Guggenheim Museum mit mehr als 100 Darstellenden, in einem
       Theater und in ihrem Loft. Die feministische Arbeit der damals 26-Jährigen,
       mit der Metapher von Menstruationsblut und Performerinnen in roten
       Kampfstiefeln, erforschte die Verdichtung von Raum und Publikum, sich immer
       näherkommend, ohne Ausweichmöglichkeit.
       
       Ein großer Raum mit dem Titel „When the I Can’t Dream“ ist angelehnt an ihr
       New Yorker Loft: In der Mitte ihr Flügel, daneben ein analoger
       4-Track-Recorder, mit dem sie mit ihrer Stimme und deren Überlagerungen
       experimentieren kann. In Sesseln sind bisher unveröffentlichte Aufnahmen
       und Interviewausschnitte zu hören und im Küchenbereich persönliche
       Fotografien zu sehen, von ihrer langjährigen Partnerin, der Tänzerin und
       Choreografin Mieke van Hoek, aber auch von ihr selbst mit Bruce Nauman und
       Richard Serra oder mit John Cage.
       
       ## Natur und Umweltzerstörung als wiederkehrende Themen
       
       Im letzten Ausstellungsbereich „Shrines and other Offerings“ wurden einige
       Arbeiten ihrer 1981 begonnenen Serie der „Shrines“ als begehbare
       Installationen aufgebaut. In „The Politics of Quiet Shrine: a music theatre
       oratorio“ von 1996 sind Imkeranzüge zu sehen. An der Stelle der
       Gesichtsschleier sind Bildschirme montiert, die in einem kurzen Loop
       naturwissenschaftliche Filmaufnahmen der Universität von Georgia zeigen.
       Davor liegen mit Wachs überzogene Alltagsgegenstände. Natur und
       Umweltzerstörung sind wiederkehrende Themen.
       
       Die letzte Arbeit der Ausstellung trägt den Titel „Songs of Ascencion
       Shrine“ von 2023. Es ist eine dreiteilige Videoinstallation einer
       Performance in dem von der Künstlerin Anne Hamilton gebauten Turm auf der
       Oliver Ranch in Kalifornien mit zwei Treppenhäusern als Doppelhelix und
       einer Wasserfläche als Boden. Sinnbildlich auf dem Weg zur Erleuchtung
       bespielt Monk darin den Raum mit ihrem Vocal Ensemble, dem Todd Reynolds
       Quartet und dem Pacific Mozart Ensemble.
       
       „Songs of Ascencion Shrine“ zeigt auch die zunehmende Komplexität ihres
       musikalischen Werks, von der anfänglichen Soloperformance hin zu
       orchestralen Strukturen. Andrea Lissoni, Direktor des Hauses der Kunst,
       spricht von ihrer Arbeit als politischem Statement in einer Zeit, in der
       Sprache auch für Desinformation verwendet wird. Sie selbst, so Meredith
       Monk, habe Kunst immer als Berufung verstanden. Als „Calling“.
       
       22 Jan 2024
       
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