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       # taz.de -- Grünen-Fraktionschef über grüne Politik: „Wohlstand schafft Ruhe“
       
       > Für Schleswig-Holsteins Grüne läuft gerade vieles nicht gut.
       > Fraktionschef Lasse Petersdotter über CO2-Verpressung und wirtschaftliche
       > Perspektiven.
       
   IMG Bild: Mag lieber Streaming als Theater: Schleswig-Holsteins Grünen-Fraktionschef Lasse Petersdotter
       
       taz: Herr Petersdotter, Umweltminister Tobias Goldschmidt geht mit seinem
       Ostsee-Nationalpark baden, Sozialministerin Aminata Touré ist unter Druck
       wegen gelöschter Chats in Zusammenhang mit der Entlassung ihrer
       Staatssekretärin Marjam Samadzade. Läuft gerade nicht so super für die
       Grünen in Schleswig-Holstein, oder? 
       
       Lasse Petersdotter: Wir haben im vergangenen Jahr viele Erfolge erzielt und
       haben keinen Grund zu verzagen. Gerade beim Nationalpark ist das letzte
       Wort noch nicht gesprochen. Den Park zu fordern, war richtig. Wir kämpfen
       weiter dafür.
       
       Frau Samadzade [1][wurde entlassen], weil sie einen israelkritischen Post
       über den Krieg in Nahost geteilt hatte. War das aus heutiger Sicht
       überzogen? 
       
       Der Wechsel der Staatssekretärin war bereits vorher geplant und
       kommuniziert, er wurde nur um einen Monat vorgezogen. Der Landtag und die
       Landesregierung hatten sich gerade zum furchtbaren Angriff der Hamas auf
       Israel positioniert, und der genannte Post entsprach nicht der Haltung der
       Regierung, der Frau Samadzade zu diesem Zeitpunkt angehörte.
       
       Und war das Löschen von Chats ein Fehler? 
       
       Das Löschen von nicht aktenrelevanten Chatnachrichten ist üblich und
       sinnvoll. Ich sehe nicht, dass Aminata Touré einen Fehler gemacht hätte.
       
       Jetzt wollen die Grünen auch noch dem Verpressen von Klimagasen im
       Untergrund, dem so genannten CCS-Verfahren, zustimmen. Warum die
       [2][Kehrtwende]? 
       
       Fast jede Studie bezieht CCS ein, um die Klimaziele zu erreichen. Deswegen
       haben wir uns als Fraktion in internen Fachgesprächen, einer Anhörung im
       Landtag und Besuchen in [3][Norwegen] intensiv mit dem Thema befasst und am
       Ende eine Neupositionierung vorgenommen: Wir sollten CCS für unvermeidbare
       Restemissionen nicht ausschließen, aber mit klaren Standards. Unter
       anderem sind wir für ein Verbot der Verpressung unter dem Nationalpark
       Wattenmeer.
       
       Trotzdem dürften Naturschützer:innen dagegen Sturm laufen. Auf der
       anderen Seite wächst der Druck von rechts. Was tun Sie dagegen? 
       
       Drei Dinge müssen wir tun: auf Warnungen potenzieller Opfer von
       Rechtsextremismus hören und Faschismus, Sexismus und Rassismus an jeder
       Stelle widersprechen, nicht nur im Parlament, auch in der Umkleide im
       Sportverein. Wir müssen sicherheitspolitisch gegen die rechte Szene
       vorgehen. Und wir müssen die Probleme der Menschen lösen, das bedeutet
       auch, wirtschaftliche Perspektiven zu schaffen.
       
       Auch für die Bauernschaft, die heftig protestiert – bis zu dem Vorfall, bei
       dem Demonstrierende in Schlüttsiel Robert Habeck am [4][Verlassen einer
       Fähre] gehindert haben? 
       
       Meine Gespräche mit den demonstrierenden Bäuer:innen und
       Handwerker:innen waren sehr konstruktiv und ernsthaft. Ich habe
       Verständnis dafür, dass Menschen ihre Sorgen auf die Straße tragen, und
       fand es teilweise verkürzt, dass vor allem darüber diskutiert wurde, wie
       sehr die Proteste von rechts unterwandert seien. Die Kürzung für den
       Agrardiesel kam sehr abrupt – da hat die Politik manchmal blinde Flecken
       für die Menschen mit mittlerem Einkommen. Auffallend war, dass die
       Gespräche auf den Demos mit Diesel begannen, dann aber schnell auf andere
       Dinge kamen, von Entwicklungszusammenarbeit bis Bürgergeld. Die Anliegen
       sind also sehr unterschiedlich und der Frust ist groß. Wer glaubt, dass nur
       andere profitieren und damit das Gefühl verliert, selbst Teil der
       Gesellschaft zu sein, sucht sich irgendwann ein Ventil. Das kann gefährlich
       werden, daher müssen wir den Zusammenhalt stärken.
       
       Wie geht das? 
       
       Nicht über Appelle, sondern über Handeln. Dazu gehört auch, dass gerade wir
       Grünen anders an einige Themen rangehen. Beispielweise reden wir gerne über
       Aufstieg, machen dann aber die Symbole des Aufstiegs verächtlich. Mich
       nervt die Erwartung, dass alle einen Dinkel-Aufstieg in irgendeine
       Kulturelite erleben sollen. Ich finde es völlig okay, sich lieber einen
       großen Fernseher oder eine schöne Uhr zu kaufen. Ich habe auch viele
       Streaming-Abos und keins für das Theater.
       
       Um Probleme zu lösen, braucht es Geld – Schleswig-Holstein ist klamm, und
       durch das Karlsruher Urteil zur [5][Schuldenbremse] wird es nicht
       einfacher. Was tun? 
       
       Wir müssen die Schuldenbremse reformieren, das ist auch die Position von
       Finanzministerin Monika Heinold. Es braucht langfristige Investitionen für
       Klimaschutz und Bildung. Aber die Transformation schaffen wir nicht nur mit
       Krediten.
       
       Genau, es braucht Einnahmen. Warum nicht die Steuern erhöhen, etwa die
       Erbschaftssteuer? 
       
       Es gibt kein Momentum dafür, es gibt nicht einmal eine Debatte. Dabei wären
       die Erbschaftssteuer und die Vermögenssteuer die demokratischsten Formen
       der Umverteilung. Mein Vorschlag wäre, dass die Einnahmen aus einer
       Vermögenssteuer in den Ländern bleiben und zu 100 Prozent für Bildung
       ausgegeben werden müssten. Dass die Fachkräfte von morgen gut ausgebildet
       sind, müsste auch im Interesse der Reichen liegen. Aber bisher sind alle
       meine Versuche versandet.
       
       Einen wirtschaftlichen Erfolg gibt es: [6][Northvolt wird seine
       Batteriefabrik in Dithmarschen bauen.] Sind Sie erleichtert?
       
       Ich bin sehr froh, das ist ein Mammutprojekt für Schleswig-Holstein. Um das
       erste klimaneutrale Industrieland zu werden, sind solche Ansiedlungen
       zentral, weil sie ein Zukunftsmodell mit guten Arbeitsplätzen verbinden.
       Der Schlüssel ist hier ausreichend Windenergie.
       
       Aber mehr Energie aus Wind und Sonne führt zu mehr Flächenverbrauch, auch
       zulasten von Naturschutz – eine Zerreißprobe für die Grünen? 
       
       Nicht nur für uns. Wir haben ein Riesendilemma mit Flächenkonkurrenz und
       -verbrauch, und ehrlicherweise habe ich keine Ahnung, wie wir das auflösen.
       Wir brauchen eine neue Diskussion darüber, wie alte Flächen entsiegelt
       werden.
       
       Die Nordsee soll durch Offshore-Windkraft in ein Giga-Kraftwerk umgewandelt
       werden. Führt das am Ende zu einem riesigen [7][Industriepark von Sylt bis
       Brunsbüttel?]
       
       Natürlich werden sich an der Nordseeküste mehr Firmen ansiedeln, aber
       heutige Industriegebiete sehen anders aus als Fabriken mit rauchenden
       Schornsteinen. Schleswig-Holstein hat das niedrigste Bruttoinlandsprodukt
       pro Kopf, es besteht Bedarf an Arbeitsplätzen mit gutem Lohn. Das hilft
       vielen Menschen ganz konkret: Wohlstand schafft Ruhe.
       
       23 Jan 2024
       
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