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       # taz.de -- Lesung Münchner Kammerspiele: Frauen als Schlachtfeld
       
       > Düsterer Theaterabend: Die szenische Lesung „Schreiben über Die
       > Situation“ deutet das Massaker der Hamas vom 7. Oktober.
       
   IMG Bild: Katharina Bach in „Schreiben über ‚Die Situation‘“ in den Münchner Kammerspielen
       
       Von der Zäsur des [1][7. Oktober 2023] und einer möglichen Bedeutung des
       Datums für die jüdische Geschichte handelte der Abend „Schreiben über ‚Die
       Situation‘“ in der Therese-Giehse-Halle der Münchner Kammerspiele. Der
       Auftakt einer geplanten Reihe am Haus, die eine künstlerische Verarbeitung
       der albtraumhaften Geschehnisse ins Auge fassen soll, wurde eingeführt von
       Barbara Mundel, Intendantin der Kammerspiele.
       
       Mundel wies im Hinblick auf die Konzeption der Reihe dankbar auf die
       Kooperation ihres Hauses mit dem Institut für Neue Soziale Plastik hin. Es
       ist das Projekt einer Gruppe antisemitismuskritischer und jüdischer
       Künstler, die Arbeiten zu jüdischer Geschichte, Erinnerungskultur und
       [2][Antisemitismus] entwickelt. Auch ein Workshop zum Thema Antisemitismus
       für die Angestellten der Kammerspiele – initiiert durch das Institut – habe
       vor Kurzem stattgefunden, führt Mundel weiter aus.
       
       Ein durchaus bemerkenswerter Vorgang, gehörte die Intendantin im Jahr 2020
       doch zu den Mit-Unterzeichner:Innen der fragwürdigen Initiative „GG5.3
       Weltoffenheit“. Diese wandte sich gegen angebliche nichtgerechtfertigte
       Antisemitismusvorwürfe in der Kultur. Erst nach den verheerenden
       Terroranschlägen und dem Massaker der Hamas ab 7. Oktober 2023 zog Mundel
       ihre Unterschrift wieder zurück.
       
       Der Abend „Schreiben über ‚Die Situation‘“ bot nun Gelegenheit, Sagbares
       über das eigentlich Unsagbare des Geschehens am 7. Oktober auszuloten.
       Hierfür sammelte Stella Leder, von der Idee und Konzept zum Abend stammen,
       Texte verschiedener Gattungen. Unter anderem von der Autorin Lena Gorelik,
       die sich in ihrer Arbeit „Bildschirmschoner“ mit der eigenen Unfähigkeit
       zum Verstehen dessen, was passiert ist, auseinandersetzt.
       
       ## „Weiteratmen“
       
       Auch mit dem Unvermögen, das medial Erlebte in Worte zu fassen. „Das Weinen
       hat keine Sprache“, wie Gorelik an einer Stelle des selbtreflexiven Ringens
       mit sich eindringlich festhält. Wie ein endloser Tag mute die Zeit seit dem
       7. Oktober an, nichts anderes als „weiteratmen“ bleibe übrig.
       
       Für den Bühnenvortrag sämtlicher Texte sorgen Katharina Bach und Bernardo
       Arias Porras. Hinter der Bühne projizierte Arbeiten israelischer
       Gegenwartskünstler liefern den expressiven Hintergrund. Traumabilder, wie
       jenes von Keren Shplisher, das Arbeiter bei der Orangenernte zeigt. Statt
       der Früchte erscheinen blutige Tropfen, die Bildtotale wirkt dazu wie von
       Einschusslöchern durchsiebt.
       
       Das Zwei-Personen-Stück „Also wie möchtest du sterben?“ der israelischen
       Autorin Hadar Galron inszeniert die Titelfrage als Dialog zweier Tel Aviver
       Eheleute. Im Falle einer Infiltration des Landes Israel will das Paar der
       Ermordung durch Terroristen vorbeugen und dekliniert Möglichkeiten eines
       Familiensuizids durch.
       
       Die Zerrüttung der Mutter kulminiert in der von ihrer Tochter gestellten
       Frage: „Was ist Vergewaltigung?“. Was sie mit den Mädchen im Kibbuz gemacht
       haben, wie soll man das einem Kind erklären? „Wie erzählt man einer
       12-Jährigen, [3][dass Frauenkörper in ein Schlachtfeld verwandelt werden
       können?]“, fragt Galron in ihrem niederschmetternden Text.
       
       ## Knall der verschiedenen Realitätswahrnehmung
       
       Er macht klar, wie schwer das fortgesetzte Schweigen von
       Frauenrechtsgruppen, der aktivistischen Kunstszene angesichts des Massakers
       wiegt. Das Dramolett „Dualidarität“ von Avishai Milstein lässt
       israelisch-jüdische und deutsche Realitätswahrnehmungen aufeinanderknallen.
       Der Anruf einer deutschen Dramaturgin bei einem israelischen Autor, der
       „das Stück der Stunde“ zur Situation geschrieben habe, gerät zur
       abgründigen Farce.
       
       Für die Situation des israelischen Schriftstellers im Schutzraum zeigt die
       Theaterfrau wenig Empathie, auch nicht als Raketentrümmer in seiner Wohnung
       einschlagen. Sie sorgt sich lediglich um die seit dem 7. Oktober
       beeinträchtigte deutsche Debattenkultur. Unbedingt will sie, dass der
       Israeli einen Autor aus Gaza empfiehlt, der Positives über Israel zu sagen
       weiß.
       
       „Aber ich kenne nicht mal einen unserer Autoren, der positiv über das Land
       schreibt!“, entgegnet der fiktive Milstein-Stellvertreter. Eine Bemerkung,
       die für Heiterkeit an einem düsteren Theaterabend sorgte. Dieser lieferte
       vorsichtige Antworten auf die Frage, ob und wie sich Kunst und Schreiben
       den Ereignissen vom 7. Oktober nähern kann.
       
       Im Gespräch mit den Autoren war auch vom Antisemitismus die Rede. Vom Bruch
       mit vermeintlichen Verbündeten und der Heimatlosigkeit, wie sie Juden
       aktuell empfinden. „Kann man Deutschen das Trauern beibringen?“, lautete
       eine Frage. Der Abend bot so Impulse für eine notwendige Auseinandersetzung
       mit Antisemitismus und antiisraelischen Einstellungen in der Kulturszene.
       
       25 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Chris Schinke
       
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