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       # taz.de -- Max Czollek über Erinnerungskultur: „Instrument der Disziplinierung“
       
       > Der Autor Max Czollek über die Veränderungen seit dem 7.Oktober, seine
       > Vertrauenskrise und unsere gewaltvolle Gesellschaft.
       
   IMG Bild: Teilnehmer einer Demonstration gegen Antisemitismus tragen ein Plakat mit der Aufschrift „Nie wieder ist jetzt“
       
       taz: Herr Czollek, reden wir zu oft nur von der Shoa, wenn wir über
       jüdische Geschichte reden? 
       
       Max Czollek: Die Gewaltgeschichte gegen Juden und Jüdinnen ist eine
       deutsche Vergangenheit, die nichts unberührt gelassen hat. Aber auch
       darüber hinaus ist die [1][deutsch-jüdische Geschichte] eine
       Aneinanderreihung von Niederlagen und Katastrophen. Ich sage das nicht,
       damit wir den Mut verlieren. Sondern um daraus die Energie zu schöpfen,
       Erinnerungskultur als Motivation zu verstehen.
       
       Motivation Wofür? 
       
       Die Gegenwart so einzurichten, dass sich die Vergangenheit nicht
       wiederholt. Es ist Zeit, sich zu fragen, was machen wir eigentlich in der
       jetzigen Situation, in der sich die deutsche Gewaltgeschichte
       augenscheinlich für eine nächste Runde warm läuft?
       
       Zeigt sich die Vergangenheit auch in Form des 7. Oktobers und seiner
       Folgen? 
       
       Am 7. Oktober ist etwas deutlich geworden, das davor sicher schon da
       gewesen ist. Aber was sich dann an solchen Momenten fokussiert: dass
       Antisemitismus existiert in allen Teilen dieser Gesellschaft. Wenn ich
       „alle“ sage, dann meine ich das auch so. Wir hatten im Jahr 2023
       unterschiedliche Anlässe, über die Kontinuität von Geschichte und also über
       die Gegenwärtigkeit von Gewalt nachzudenken. Und es beunruhigt mich, dass
       diese Gesellschaft von all diesen Anlässen, die ja von astronomischen
       AfD-Umfragewerten bis zu Hubert Aiwanger reicht, vor allem den Anlass
       skandalisierte, der am wenigsten am Selbstbild der erfolgreichen deutschen
       Aufarbeitung kratzt. Das zeigt, einmal mehr, dass diese Gesellschaft keine
       Lust hat, [2][Erinnerungskultur als ein Instrument der Selbstkritik] zu
       verstehen, sondern eher als ein Instrument der Disziplinierung der
       vermeintlich Anderen oder [3][Fremden einsetzt.]
       
       Inwiefern? 
       
       Das aktuellste Beispiel dafür sind die Bauernproteste. Die Bauernproteste,
       die nicht nur gewaltvoller sind, als die meisten Klimaproteste es je waren,
       sondern die auch begleitet werden von einer überraschend hohen Zahl offen
       rechtsradikaler Teilnehmer und den damit einhergehenden Aufrufen zur
       Abschaffung der Demokratie, Hass gegen Linke und Rassismus, der bis zu
       Gewaltaufrufen und Mordphantasien reicht. Aber auf Seiten der deutschen
       Politik oder Medienlandschaft sehen wir nicht mal annähernd eine Reaktion
       wie nach dem 7. Oktober. Ist doch merkwürdig, dass der Bundeskanzler nun
       schweigt, nachdem er im Herbst noch ganz groß: „Nie wieder ist jetzt“
       gesagt, die Bekämpfung von Antisemitismus gemeint und damit die Abschiebung
       von Asylsuchenden im großen Stil begründet hatte.
       
       Ist „Nie wieder!“ denn wirklich jetzt? 
       
       Nein, offensichtlich nicht, offensichtlich geht es der Gesellschaft um
       etwas anderes, wenn sie diesen Satz sagt. Für „Nie wieder ist jetzt“
       müssten wir doch überhaupt erst mal anfangen zu verstehen und anzuerkennen,
       was da draußen gerade passiert. Ich meine, hallo, die AfD liegt bei einem
       Viertel Wählerzustimmung, die nächsten Wahlen werden systemgefährdend. Das
       dürfte es dem eigenen Selbstbild von der guten Aufarbeitung zufolge gar
       nicht mehr geben. Und da angesichts dieser [4][Realität die Krise des
       eigenen Selbstbildes] ausbleibt, entsteht bei mir der Eindruck, dass die
       Leute einfach keine Lust haben, ihre eigene Erzählung der guten
       Aufarbeitung in Frage zu stellen. Stattdessen fragen sie: „Ja, und was
       müssen wir denn jetzt tun, damit die Geschichte sich nicht wiederholt?“ Ich
       verstehe diese Frage nicht, die Geschichte wiederholt sich doch gerade!
       
       Wie k ö nnen wir uns selbst schützen? 
       
       Was mich aktuell beschäftigt, ist die Frage, wie wir uns auf diese
       Niederlagen vorbereiten können. Das ist nämlich wahnsinnig schwierig.
       Gemeinsam gewinnen ist einfach. Gemeinsam verlieren ist schwer. Der [5][7.
       Oktober war in dieser Hinsicht eine Enttäuschung]. Ein wichtiger Aspekt
       wäre vielleicht, dass man die gegenseitige Verletzbarkeit und
       Verstricktheit anerkennt: In einer von Gewalt strukturierten Gesellschaft
       kann es doch kein Skandal sein, wenn deutlich wird, dass wir mit der Gewalt
       verstrickt sind. Damit müssen wir umgehen lernen; als Einsicht, dass unser
       Gegenüber Fehler macht – aber auch, und das ist fast noch wichtiger, dass
       wir nicht automatisch zu den Guten gehören, weil wir etwa auf einer Ebene
       Diskriminierung erleben oder es wirklich gut meinen. Wir sind ja keine
       Staaten, wir haben keine Räson, wir sind Menschen. Und als solche sollten
       wir uns begegnen. Das ist es, was die Zivilgesellschaft staatlichen
       Akteuren voraus hat. Das sollte auch die Stärke sein, auf die sie sich
       besinnt.
       
       Wer muss diese Grenze jetzt klarer ziehen? 
       
       Ich glaube, ein wirklich zentraler Aspekt besteht darin, Juden und Jüdinnen
       als Menschen wahrzunehmen. Das klingt jetzt vielleicht etwas merkwürdig,
       aber Juden und Jüdinnen werden auch in aktuellen Auseinandersetzungen
       weniger als lebendige Menschen und mehr als Symbole behandelt, an denen
       sich der eigene moralische Status beweisen lässt und um deren Besitz daher
       gerungen wird. Tatsächlich gibt es neben den symbolischen Juden aber auch
       echte Menschen, [6][Menschen mit einer Gewalterfahrung], Menschen mit
       Angst. Menschen aber auch mit einer Handlungsmacht. Und es wäre schon
       wichtig, dass gerade auch eine linke, kritische, antirassistische Bewegung
       mehr Angebote schafft, bei denen Juden und Jüdinnen als Menschen Teil sein
       können.
       
       Wie hat sich deine Arbeit seit dem 7. Oktober verändert? 
       
       Es gab ganz akute Veränderungen, wie dass ich einfach seitdem unter
       Sicherheitsvorkehrungen gelesen habe. Das war eine Erfahrung, die hatte ich
       seit dem Anschlag auf die Synagoge in Halle nicht mehr. Zweitens ist mir
       selbst in den vergangenen drei Monaten nochmal klarer geworden, dass mir
       Menschlichkeit wichtiger ist als Ideologie. Die Unfähigkeit, empathisch zu
       sein, ist ein Riesenproblem, egal bei welcher politischen Einstellung. Auf
       einer dritten Ebene ist mir klar geworden, dass Begegnung und
       Zusammenarbeit momentan vor allem auf individueller Ebene stattfinden
       müssen. Vorab weiß ich einfach nicht mehr, wie die verschiedenen Akteure
       mir gegenüber zum Thema Antisemitismus stehen. Das ist so eine Art
       Vertrauenskrise. Diese Zersplitterung bürgt riesige Gefahr angesichts der
       aktuellen deutschen Situation, weil wir doch alle Kräfte der
       Zivilgesellschaft brauchen werden, um dagegen vorzugehen.
       
       Kannst du dir vorstellen, dass diese Vertrauenskrise wieder gel ö st werden
       kann? 
       
       Ja, ich glaube, dass man diese Vertrauenskrise in so einer Gesellschaft
       immer irgendwie lösen können muss. Wenn ich eine einzige positive Vision
       formulieren müsste, dann, dass wir an dem Punkt weitermachen, an dem wir
       merken, dass auch die eigenen Bezugsgruppen knietief in den
       Diskriminierungs- und Gewaltkontexten drin stehen, die man kritisiert hat
       und überwinden wollte. Die eigene Diskriminierung bedeutet eben nicht, dass
       man selber nicht diskriminieren könnte. Und die Realität staatlicher
       Repressionen bedeutet nicht, dass man selbst frei ist von Gewalt. Die
       Debatte, ob jemand mit Diskriminierungserfahrung Antisemit oder Rassist
       oder Sexist sein kann, die können wir uns sparen. Die Antwort lautet immer:
       ja, ja, es ist möglich, all das zu sein. Es ist sogar wahrscheinlich, dass
       wir das verinnerlicht haben. Und dann gilt es zu überlegen, wie wir
       solidarisch und im Sinne eines „braver spaces“ voneinander lernen, einander
       weniger Gewalt anzutun. Und die Gesellschaft in diesem Sinne zu gestalten.
       
       9 Jan 2024
       
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