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       # taz.de -- Marode Infrastruktur in Russland: „Wir erfrieren. Putin, helfen Sie!“
       
       > Der extrem kalte Winter legt die marode russische Infrastruktur offen.
       > Zehntausende Menschen frieren und schicken Hilferufe an Präsident Putin.
       
   IMG Bild: Meteorologen melden für ganz Russland für diesen Januar eine anomale Kälte, wie hier in St. Petersburg am 9. Januar
       
       Moskau taz | Es ist nur ein Aufruf unter vielen, die aktuell in den
       sozialen Netzwerken Russlands zu sehen sind: In Woskressensk, knapp 80
       Kilometer südlich von Moskau, haben sich Bewohner eines Hauses warm
       angezogen und sich im Treppenhaus in Reih und Glied aufgestellt. Rechts
       Briefkästen, hinten eine grünliche Wand. Wenn sie sprechen, bilden sich
       Nebelwölkchen vor den Mündern. Es ist kalt in Woskressensk, so kalt wie
       seit 40 Jahren nicht mehr.
       
       Für ganz Russland melden die Meteorolog*innen diesen Januar eine
       anomale Kälte, im Schnitt bis zu 15 Grad kälter als sonst zu dieser
       Jahreszeit. In Moskau und Umgebung waren es Anfang des Monats bis zu minus
       30 Grad. Das bringt die Infrastruktur an ihre Grenze, wie sich in knapp
       zehn Regionen des Landes zeigt: Wasserleitungen bersten, Heizungen bleiben
       kalt, der Strom fällt aus. In manchen Wohnungen funktioniert auch das Gas
       nicht.
       
       Menschen tragen zu Hause Jacken und Mützen, machen Feuer vor der Haustür.
       Die Treppenhäuser sind dick vereist, Freiwillige verteilen Federbetten und
       bringen warmes Essen. Manche, die über geheizte Wohnungen verfügen, bieten
       Bedürftigen Schlafplätze. Schulen schließen, Krankenhäuser werfen ihre
       Generatoren an. In den sozialen Netzwerken häufen sich die Hilferufe, wie
       der aus Woskressensk mit den Frierenden auf der Treppe.
       
       „6 Grad sind es in meinem Schlafzimmer“, sagt eine ältere Frau, die
       zunächst für ihr ganzes 14-stöckiges Haus spricht. „Wir leben nicht, wir
       existieren. Wir erfrieren! Schauen Sie uns an! Tun Sie etwas! Wir werden
       krank! Unsere Haustiere zittern! Man sagt uns, alles sei unter Kontrolle.
       Getan wird aber nichts. Helfen Sie uns! Wladimir Wladimirowitsch, sehen Sie
       doch, es wird nur schlimmer!“
       
       ## Wahlkampf im Heizungskeller
       
       Und siehe da, der russische Präsident befasst sich – natürlich
       öffentlichkeitswirksam – mit dem Problem der vereisten Wohnungen.
       Gouverneure der entsprechenden Regionen müssen ihre Berichte bei ihm
       abliefern, Putin verspricht Abhilfe.
       
       Tags darauf zeigt das Staatsfernsehen, wie Heizungen wieder anspringen, wie
       das Ermittlungskomitee die Vorgesetzten der Heizwerke und die
       Vizegouverneure der Regionen zu Befragungen mitnimmt.
       
       Putin kümmert sich für gewöhnlich ungern um „niedere“ Angelegenheiten,
       überlässt Probleme mit der Versorgung, der Infrastruktur, der hohen Preise
       seiner Regierung. Lieber gibt er sich als großer Außenpolitiker, der das
       Land vor bösen Feinden rettet. Was sind da schon kalte Heizungen?
       
       Doch [1][im März will er mit großem Zuspruch der Bevölkerung zum sechsten
       Mal im Amt bestätigt] werden. Da kommt es schlecht, wenn die Bevölkerung
       bibbert und unzufrieden die „Willkürherrschaft“ anprangert, zumal so nah an
       Moskau. Es sind vor allem die Menschen in den Städten rund um die
       Hauptstadt, die in den Neujahrsferien – in Russland dauerten sie bis 9.
       Januar – froren.
       
       ## Ein altes Problem
       
       Eine Wärmeleitung bei Podolsk, südlich von Moskau, war Anfang Januar
       gerissen und konnte mehrere Tage lang nicht repariert werden. Aber auch bei
       Tscheljabinsk am Ural, in Rostow am Don an der russisch-ukrainischen
       Grenze, in Wolgograd, dem früheren Stalingrad, blieben die Menschen ohne
       Heizung, ohne Warmwasser, manche ohne Strom.
       
       Das Problem [2][der maroden Infrastruktur rührt noch aus der Sowjetzeit].
       Die von Korrosion befallenen Eisenrohre werden zwar nach und nach durch
       robustere Plastikrohre ersetzt, aber zu langsam. „Alles zu erneuern ist
       auch in zwei Jahrzehnten unmöglich“, heißt es selbst aus dem Kreml. Zudem
       wächst die Hauptstadt rasant.
       
       Am Rande Moskaus entstehen neue Wohnsiedlungen, Einkaufszentren, Stadien.
       Angeschlossen werden sie an alte Rohre und Stromnetze. Den Belastungen bei
       tiefen Temperaturen halten diese nicht stand und bersten. Werden
       elektrische Geräte eingeschaltet, um für Wärme in den Häusern zu sorgen –
       zumal in den Ferien, wenn die meisten Menschen zu Hause bleiben –, bricht
       auch schnell das Stromnetz zusammen.
       
       „Wir wollen Wärme!“, schreien die Hausbewohner von Woskressensk und reden
       am Ende ihres Hilferufs durcheinander. „Wir haben Angst um unser Leben! Es
       ist unerträglich!“
       
       12 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
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