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       # taz.de -- Auf Schokoladenreise durch die Schweiz: Schroffe Berge, zarter Schmelz
       
       > Die Schweiz ist für ihre Schokolade bekannt, dabei hatte sie nie Kakao
       > produzierende Kolonien. Was ist ihr süßes Geheimnis?
       
   IMG Bild: Der zarte Schmelz und die schroffen Berge gingen eine vielversprechende Verbindung ein
       
       [1][Schokolade] ist meine Schwäche. Nicht die edle dunkle mit dem hohen
       Kakaoanteil – die esse ich auch. Aber meine große Liebe gilt der
       Vollmilchschokolade, am liebsten gefüllt mit Brandy, Himbeergeist oder
       Williams Kirsch in einer [2][Zuckerkruste]. Auch wenn das ziemlich aus der
       Mode gekommen ist und ein fragwürdiges Image hat, von Damenkränzchen mit
       Schnapsbohnenseligkeit der 60er Jahre und heimlichem, verzuckertem
       Alkoholproblem.
       
       Neu entdeckt habe ich die etwas ins Abseits geratene Schnapsschokolade bei
       Cailler auf einer Schokotour durch die Schweiz. Mit oder ohne
       Zuckerkruste, mit Gin, Whiskey, Brandy. Heute steht die Produktionsstätte
       in Broc, nicht weit von Fribourg. Begonnen hat die Geschichte der ältesten
       Schweizer Schokoladenmarke aber schon vor über 200 Jahren, 1819, mit der
       Eröffnung einer Manufaktur in Vevey am Genfersee durch François-Louis
       Cailler.
       
       Nach Cailler eröffneten im 19. Jahrhundert weitere Schokoladenfabrikanten
       ihre Werke: 1825 Philippe Suchard in Neuenburg, 1845 Rudolf Sprüngli-Ammann
       in Zürich, 1874 Johann Georg Munz in Flawil und 1879 Rudolf Lindt in Bern.
       Einige der Namen kennen wir bis heute, wie überhaupt die Schweiz als das
       Schokoladenland schlechthin gilt. Doch, frage ich mich, als ich mir gerade
       ein Stück der Gin-Schokolade ohne Zuckerkruste auf der Zunge zergehen
       lasse: Wie kam es eigentlich dazu?
       
       Das hat zum einen mit der Schweizer Innovationskraft zu tun. Als Geburtsort
       der modernen Tafelschokolade gilt zwar England. 1847 fügten Fry & Sons hier
       der Kakaomasse zusätzliche Kakaobutter hinzu und brachten die erste
       Essschokolade auf den Markt.
       
       Die große Neuerung kam dann aber aus Vevey. Die Cailler-Tochter Fanny hatte
       mit Daniel Peter einen zukunftsgewandten Mann geheiratet. Im Jahre 1875 war
       er mit einer Kombination aus Kakao, Zucker und Kondensmilch schließlich
       erfolgreich. Ob die Milchschokolade von Peter wirklich die allererste war,
       ist heute umstritten, die Firma Jordan & Timaeus aus Dresden soll bereits
       früher welche angeboten haben. Den Durchbruch schaffte die Milchschokolade
       aber ohne Frage in der Schweiz.
       
       ## Conche und Kondensmilch
       
       Das von Daniel Peter gegründete Unternehmen Peter-Cailler et Compagnie war
       lange führend in der Herstellung, die anderen Schweizer
       Schokoladenproduzenten kopierten das Verfahren. Etwas säuerlich und sandig
       soll diese erste feste Schokolade gewesen sein, bis Rudolf Lindt nur wenige
       Jahre später die zweite revolutionäre Neuerung entdeckte: das Conchieren.
       Mehr Rühren und mehr Kakaobutter macht die Schokolade zartschmelzend.
       
       Denn ohne Kakao geht nichts, das ist klar. Doch der war ursprünglich nur in
       Mittel- und Südamerika heimisch. Nach Europa gelangte er im Zeitalter des
       Kolonialismus, es waren zuallererst die Spanier, die ihn sich bei ihren
       Eroberungszügen von den Mayas, Inkas und der Olmekenkultur angeeignet
       hatten.
       
       Kakaobohnen wurden dort als heilig verehrt und waren gesellschaftlich
       Höhergestellten wie Priestern oder Adligen vorbehalten. Der spanische Adel
       ahmte dieses Privileg nach. Trinkschokolade wurde an den Höfen kredenzt,
       von dort kam sie langsam unters Volk und verbreitete sich über die
       Königshöfe auch über ganz Europa.
       
       ## Die Schweizer Handelsgesellschaft in Ghana
       
       Wieso wurde nun ausgerechnet die Schweiz zum Schokoladengroßproduzenten,
       obwohl sie nie Kolonien besaß? Dieser Frage geht die
       Wirtschaftshistorikerin Andrea Franc nach, die ich auf meiner
       Schokoladenreise in Basel treffe. Sie hat über die Basler
       Handelsgesellschaft (BHG) geforscht.
       
       Die BHG war eine wichtige Akteurin in der britischen Kolonie Goldküste, dem
       heutigen Ghana, dessen Klima sich für den Kakaoanbau so gut eignet wie
       dessen südamerikanische Heimat. Die Handelsgesellschaft, 1859 von der
       Basler Mission als AG gegründet, verschiffte 1893 den ersten Sack
       ghanaischen Kakao nach Europa.
       
       Die geschäftstüchtigen Schweizer wollten mitmischen im globalen Handel mit
       den Kakaobohnen. 1911 wurde die Kolonie Goldküste zum größten
       Kakaoproduzenten der Welt. Heute ist Ghana auf Platz zwei dieser Statistik,
       hinter dem Nachbarland Elfenbeinküste. Der Direktimport von der Goldküste
       und die zwei Erfindungen der 1870er Jahre – die feste Milchschokolade und
       die Conche – verhalfen der Schweizer Schokolade zu einem Boom.
       
       Und die Touristen, die genau zu dieser Zeit die Schweizer Berge als
       Reiseziel lieben lernten, trugen den Ruf der Schokolade in die Welt hinaus.
       Der zarte Schmelz und die schroffen Berge, etwa das Matterhorn als ewiges
       Logo der Toblerone, gingen eine vielversprechende Verbindung ein.
       
       ## Schokolade als Soldatenproviant
       
       Bis zum Ersten Weltkrieg ließ die britische Kolonialregierung die Basler
       Handelsgesellschaft weitgehend frei gewähren. Doch während des Kriegs wurde
       der Basler Firma Deutschenfreundlichkeit vorgeworfen, die Mitarbeiter
       mussten die Kolonie verlassen, und die Güter der BHG wurden konfisziert.
       
       Abgesehen davon erwies sich der Krieg für die Schweizer
       Schokoladenproduzenten als äußerst profitabel. Dank gutem Nährwert und
       hoher Haltbarkeit eignete sich die Schokolade perfekt als Soldatenproviant.
       Mit den europäischen Armeen als Abnehmern profitierte die Schweizer
       Schokoladenindustrie nicht nur von florierenden Exporten, sondern gewann
       mit den Soldaten auch viele neue Kunden.
       
       Der Zweite Weltkrieg hingegen brachte Einfuhrbeschränkungen und
       Rationierung von Kakao und Zucker. In den folgenden Jahrzehnten wurde die
       Schweizer Schokoladenindustrie dann rationalisiert und modernisiert,
       bekannte Familienbetriebe wurden von Großkonzernen übernommen.
       
       So gehört Cailler heute zum [3][Weltkonzern Nestlé], Toblerone dem
       US-Lebensmittelriesen Mondelez International, der sich auch Suchard
       einverleibte. Dafür hat das Familienunternehmen Lindt unendlich expandiert.
       1986 ging es an die Börse, heute zählen Namensaktien von Lindt zu den
       teuersten überhaupt.
       
       ## Bean-to-bar statt nationaler Mythen
       
       Egal, in wessen Besitz sie sind: Die Erzeugnisse der großen Schweizer
       Marken gelten im Segment der industriell hergestellten Schokolade bis heute
       als Qualitätswaren und zählen nicht zum Billigpreissegment. Nur stehen sie
       längst für Tradition und nicht mehr für Innovationskraft.
       
       Die suchen Schokoladen-Aficionados mittlerweile woanders und schwören,
       jenseits nationaler Zuschreibungen und Mythen, auf [4][Bean-to-bar], „von
       der Bohne bis zur Tafel“. Was bedeutet, dass Chocolatiers sämtliche
       Schritte der Schokoladenherstellung eigenständig ausführen: angefangen von
       der Auswahl der Kakaobohnen im Ursprungsland, deren Röstung, dem Mahlen und
       Temperieren bis hin zum Gießen der fertigen Schokoladentafel.
       
       Ähnlich wie bei Craft Beer oder Third Wave Coffee stehen beste Rohstoffe
       und Handwerkskunst im Mittelpunkt, der Geschmack soll einzigartig und
       charaktervoll sein statt einheitlich-süß. Zumeist besteht die Zutatenliste
       nur aus Kakaobohnen und Zucker. Dafür kommen dann nur die besten Bohnen
       infrage, dementsprechend teuer ist die Schokolade. Ein schlicht und
       reduziert daherkommendes Luxusprodukt.
       
       In den traditionellen Schweizer Confiserien, die ich auf meiner Schokotour
       besuche, spielt Bean-to-bar keine Rolle – was meinen Genuss nicht mindert.
       Wie am Basler Marktplatz: Hier betreibt die Confiserie Schiesser seit 1870
       und in fünfter Familiengeneration das älteste Kaffeehaus der Schweiz, mit
       Schokoladenmanufaktur und Backstube unterm Dach. Die Kirschwasserstäbchen
       dort sind übrigens mit Zuckerguss und schmecken fantastisch!
       
       31 Mar 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Edith Kresta
       
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