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       # taz.de -- Buch über das Leben Vivian Maiers: Durch die Linse der Gouvernante
       
       > Die New Yorker Fotografin Vivian Maier ist eine große Unbekannte. Die
       > Publizistin Ann Marks hat ihre seltsame Lebensgeschichte aufgeschrieben.
       
   IMG Bild: Zufälliger Blick: Fotografie von Vivian Maier
       
       Ihre Fotografien fehlten 2018 in der Hamburger Ausstellung „Street. Life.
       Photography“, dabei hatte sie schon Jahre zuvor weltweit Beachtung
       gefunden. Ihr Name war längst im gleichen Atemzug wie Lisette Model, Helen
       Levitt, [1][Diane Arbus], André Kertész oder [2][Walker Evans] genannt
       worden. Die Rede ist von der 2009 im Alter von 83 Jahren verstorbenen
       US-Amerikanerin Vivian Maier. Zu ihren Lebzeiten wusste fast niemand, dass
       sie fotografierte.
       
       Der New Yorker Genrefotograf Joel Meyerowitz beschrieb diese mysteriöse
       Künstlerin so: „Sie ist so betulich wie eine altbackene Gouvernante. Sie
       ist das Mauerblümchen, die ledige Tante, die biedere Großstadt-Touristin …
       nur … sie ist es eben nicht! Sie war ein professionelles Kindermädchen, was
       an sich schon eine großartige Mimikry ist – denn wie verdächtig oder
       gefährlich kann eine Frau schon sein, die zwei oder drei Kinder hütet?
       
       Durch ihren Beruf war sie mit Fug und Recht draußen unterwegs und durfte
       alle Bilder machen, die sie interessierten. Man sieht an ihren Fotografien,
       dass sie ein untrügliches, schnell reagierendes Sensorium für menschliches
       Verhalten hatte, für sich auftuende Momente, das Aufblitzen einer Geste,
       Stimmungen auf einem Gesicht – flüchtige Augenblicke, die das alltägliche
       Leben auf der Straße für sie zur Offenbarung machten.“
       
       ## Kurz vor ihrem Tod entdeckt
       
       Als viele ihrer Fotos zwei Jahre vor ihrem Tod und ohne ihr Wissen unter
       höchst unwahrscheinlichen Umständen entdeckt, dieser Bilderschatz nach und
       nach erarbeitet und erkannt wurde, erhielt die bis dahin unbekannte
       Fotografin durch Ausstellungen, Buchveröffentlichungen und Filme,
       insbesondere dem 2013 erstmals gezeigten Dokumentarfilm „Finding Vivian
       Maier“, eine immense Medienpräsenz.
       
       Es war dieser Film, der eine Ann Marks, jahrelange Vertriebsleiterin großer
       Medienkonzerne und Hobbygenealogin, zu einer langjährigen Recherche über
       Vivian Maier anstiftete. Trotz großformatiger Fotobände, unzähliger
       Zeitungsartikel, Radiobeiträge und Fachaufsätzen schien ihr das Leben des
       fotografierenden Kindermädchens noch nicht ausgeleuchtet zu sein.
       
       Wie das Titelbild ihrer nun auf Deutsch vorgelegten Biografie, das ein
       Selbstporträt Vivian Maiers aus dem Jahr 1954 zeigt, eine wohlgekleidete
       Frau, ihre Rolleiflex in den Händen. Ein Foto, das mit Hell und Dunkel
       spielt und die Abgebildete in zwei Hälften teilt. Gründe für ihr stetes
       Bemühen, ihre Identität hinter schroffer Distanz zu verbergen und ihre
       Vergangenheit im Dunkeln zu lassen, findet Marks in Maiers
       Familiengeschichte.
       
       Maier hatte eine labile, narzisstische Mutter, einen gewalttätigen,
       alkoholkranken Vater und einen schizophrenen Bruder. Die Tarnung gegenüber
       ihrer Familie wird verständlich.
       
       ## Juristische Streitigkeiten
       
       Trotz juristischer Streitigkeiten um Urheber- und Nutzungsrechte sowie des
       kursierenden Vorwurfs, sie würde Maiers Fotografie kommerzialisieren,
       kooperierte Marks für ihr Buch mit den „Entdeckern“ der Fotografin John
       Maloof und Jeffrey Goldstein. So erhielt sie die Gelegenheit, deren
       Bildbestand von 140.000 Fotos zu sichten. Viele von ihnen begleiten Marks
       Tagebuch des Lebens von Vivian Maier, das sie auch dank der Befragung von
       Personen aus Maiers Umfeld zu einer komplexen Geschichte zusammenfädelt.
       
       Vivian Maier war „eine Überlebenskünstlerin, die die Kraft und Fähigkeit
       besaß, sich aus einer dysfunktionalen Familie zu befreien und ihr Los
       exponentiell zu verbessern“, resümiert die Autorin. Deren Buch ist von
       Sympathie für ihre Protagonistin geprägt, der es trotz aller Widrigkeiten
       gelang, ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen.
       
       Die Fotografie war für Maier mehr als ein Werkzeug, um sich auszudrücken.
       Durch die Fotografie gelang es Vivian Maier, schreibt Ann Marks
       schließlich, „ein Band zwischen sich und der Welt zu knüpfen. Und wenn sie
       es wünschte, schaltete sie sich in deren Lauf ein, um dort ihren Platz
       einzunehmen.“
       
       7 Feb 2024
       
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