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       # taz.de -- Lust auf Land: Werbung für die Idylle
       
       > In Deutschland zieht es die Menschen vermehrt zurück in ländliche
       > Gebiete. Initiativen wie „Gelobtes Land“ im Rhein-Hunsrück-Kreis
       > unterstützen sie dabei.
       
   IMG Bild: Schön hier: der Hunsrück im Nebel
       
       Lange gingen die Wanderungsbewegungen der Bevölkerung in Deutschland nur in
       eine Richtung, nämlich rein in die Stadt. Seit Mitte der Neunzigerjahre bis
       etwa 2012 könne man von einer regelrechten [1][Landflucht] sprechen, sagt
       Catherina Hinz, Direktorin des Berlin Institut für Bevölkerung und
       Entwicklung. „Schulen, Dorfläden und Kneipen sind reihenweise
       weggestorben.“
       
       Doch Anfang der 2010er Jahre kehrte sich der Trend um. Viele Menschen
       [2][zogen aus den Großstädten raus ins Umland]. Mittlerweile weisen sogar
       die dünn besiedelten ländlichen Kreise die höchsten Nettozuwanderungsraten
       auf: Die Zahl der Zuzüge relativ zu der der Wegzüge ist dort am höchsten.
       
       Verstärkt hat diesen Trend die [3][Coronakrise]. „Sie hat dafür gesorgt,
       dass Landleben wieder sexy geworden ist“, sagt Michael Boos, seit 12 Jahren
       Bürgermeister der Verbandsgemeinde Simmern-Rheinböllen im
       Rhein-Hunsrück-Kreis. Wäre es nach früheren Studien des Statistischen
       Bundesamts gegangen, hätte seine Gemeinde im letzten Jahrzehnt 10 Prozent
       der Bevölkerung verlieren müssen, sagt Boos. Doch es kam anders: Allein in
       den letzten zweieinhalb Jahren sind zu den 30.000 Einwohner*innen der
       Gemeinde 1.000 neu dazugekommen.
       
       Das liegt einerseits an äußeren Faktoren wie der Verkehrsanbindung durch
       die Bundesstraße B50, von der aus es über die Autobahn A61 weiter nach
       Koblenz geht. Andererseits aber wurden vor Ort gezielte Anstrengungen
       unternommen: Vor fünf Jahren gründeten Boos und andere die Initiative
       „Gelobtes Land“ als Anlaufstelle für Menschen, die überlegen, aufs Land zu
       ziehen – aber Bedenken haben, ob das auch gutgeht.
       
       Der Slogan „Komm ins gelobte Land“ habe bei ihnen ein neues
       Selbstbewusstsein geschaffen, sagt Bürgermeister Boos. Damit so ein Slogan
       greife, müsse man damit allerdings auch Ernst machen. „Manchmal bekomme ich
       jetzt Beschwerdemails von Bürgern mit der Begründung, dass so etwas im
       gelobten Land ja nicht sein könne“, sagt er und lacht.
       
       ## Stellenausschreibung per Post
       
       Doch so eine Initiative braucht ein Gesicht, und in diesem Fall ist es das
       Gesicht von Hannah Wagner (34). Wagner ist selbst Rückkehrerin, sie wuchs
       im Rhein-Hunsrück-Kreis auf, ging aber wie viele andere fürs Studium weg.
       Ihre Mutter schickte ihr vor einigen Jahren die Zeitungsanzeige mit der
       Stellenausschreibung für die Servicestelle bei Gelobtes Land. Nun
       vermittelt die Kulturwissenschaftlerin hauptberuflich zwischen Unternehmen
       in der Region und Menschen, die herkommen wollen, aber noch unsicher sind.
       
       Die Gründe, warum die Leute aus der Stadt weg wollen, sind vielfältig.
       [4][Steigende Mieten] sind ein Problem, besonders junge Familien sind davon
       betroffen. „Wenn ich mit den Kindern auf den Spielplatz gehe und dann die
       Autos im Kreis drumherum fahren, ist das alles andere als naturnahes
       Aufwachsen“, sagt Hannah Wagner.
       
       Etwa die Hälfte der Leute, die sie berät, seien selbst auf dem Land groß
       geworden und dächten tatsächlich über eine Rückkehr nach, sagt sie. Auch
       die Kinderbetreuung durch die Großeltern spiele dabei eine Rolle. Und die
       Klimakrise verstärke das Interesse am Landleben, etwa wenn es in Städten
       wegen unzureichender Begrünungskonzepte [5][immer heißer wird].
       
       „Die große Freiheit, die die Großstadt versprochen hat, konnte sie nicht
       halten“, sagt Bevölkerungsforscherin Catherina Hinz. In der Stadt sei es
       „sehr eng geworden“.
       
       Dennoch haben viele Bedenken, den Schritt aufs Land zu machen. Rückkehrerin
       Anke Müller etwa schreibt [6][auf der Webseite von Gelobtes Land], dass sie
       immer dachte, sie fände auf dem Land keine Arbeit. Müller hat
       Interkulturelle Pädagogik, Soziologie und Gender Studies studiert und war
       in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit tätig. Nun arbeitet sie
       an der Polizeihochschule in Büchenbeuren, wo sie als Dozentin
       interkulturelle Kompetenz unterrichtet.
       
       Das Leben auf dem Land habe sie geerdet, schreibt Müller. Sie habe eine
       Nebenerwerbslandwirtschaft mit Schafen und Tannenbäumen aufgemacht. „Meine
       Tochter liebt es, draußen zu sein, und ich schätze die Bodenständigkeit und
       das Aufeinanderaufpassen im Dorf.“
       
       ## Angst vor dem Ausschluss
       
       „Aus unserer Forschung wissen wir: Es braucht diese Pioniere“, erklärt
       Catherina Hinz. Denn auch die Sorge davor, ausgeschlossen zu werden, halte
       Menschen davon ab, aufs Land zu ziehen. Eine Person zu kennen, die bereits
       dort lebt, kann dann schon einen Unterschied machen. „Manche Leute glauben
       noch immer, dass das Leben im Dorf irgendwie rückständig ist“, sagt Wagner.
       „Auch auf dem Land findet Veränderung, Fortschritt und Innovation statt.“
       
       Wie sich die Stadt-Land-Bewegung weiterentwickelt, ist schwer
       vorauszusagen. „Langfristig wird das Land trotzdem altern und die Dörfer
       schrumpfen“, glaubt Catherina Hinz. „Aber eben etwas milder.“
       
       Es gebe ja auch nicht den einen ländlichen Raum, sagt Hannah Wagner. Zu
       viele verschiedene Faktoren spielten eine Rolle bei der Frage, wohin die
       Leute am Ende ziehen. Das weiß sie auch aus ihrer Mitarbeit im bundesweiten
       Netzwerk Hüben & Drüben, in dem sich 36 Rückkehrerinitiativen
       zusammengeschlossen haben. Nicht alle werden wie Gelobtes Land durch
       Unternehmen und die Kommune gefördert. Zum Teil sind es auch private
       Initiativen, Wohnprojekte oder Co-Working-Spaces. Sie eint, dass sie die
       Menschen dazu bringen wollen, nicht nur in die Vororte der großen Städte
       ausweichen, sonder sich einen Neuanfang in der Provinz zutrauen.
       
       So wie Hannah Wagner. Mit ihrem Partner ist sie in die alte Schule im
       Ortskern des 268-Seelen-Dorfs Schönborn gezogen. 40 Jahren sei die
       leerstehende Schule der Schandfleck im Dorf gewesen, habe ein Nachbar
       damals zu Wagner gesagt. „Jetzt kommen die Menschen vorbei, erzählen, dass
       da, wo das Schlafzimmer ist, früher ihr Platz im Klassenzimmer war“, sagt
       sie. „Es fühlt sich an, als könnte man dem Dorf etwas zurückgeben, was es
       verloren hat.“
       
       2 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Landflucht/!t5202198
   DIR [2] /Stadtflucht-liegt-im-Trend/!5861077
   DIR [3] /Stadt-versus-Land/!5903592
   DIR [4] /Wohnungsknappheit-in-Europas-Grossstaedten/!5920574
   DIR [5] /Studie-zu-Klimawandel-in-den-Staedten/!5738761
   DIR [6] https://www.gelobtesland.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Theresa Moosmann
       
       ## TAGS
       
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