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       # taz.de -- „Die Optimistinnen“ am Gorki Berlin: Arbeitskampf mit Verve
       
       > Emel Aydoğdu inszeniert Gün Tanks Roman über die Arbeiterstreiks der
       > 1970er. Sie macht daraus mustergültiges postmigrantisches Theater.
       
   IMG Bild: Weibliche Solidarität im Arbeitskampf: Yanina Cerón, Ceren Bozkurt, Aysima Ergün und Sema Poyraz in „Die Optimistinnen“
       
       Anfang der 1970er Jahre kam es in der Bundesrepublik zu einer Reihe
       sogenannter „wilder Streiks“, also Arbeitsniederlegungen, die nicht
       gewerkschaftlich organisiert waren, sondern spontan von der Belegschaft
       eines Werks beschlossen wurden. In vielen Fällen streikten vor allem
       ausländische Arbeiternehmer, die in der Regel schlechter gestellt waren
       als ihre deutschen Kollegen. Ganz unten in der Hierarchie fanden sich die
       Gastarbeiterinnen, die für gleiche Arbeit deutlich weniger verdienten als
       ihre Kollegen.
       
       Mit ihrem Romandebüt „Die Optimistinnen“ setzt die Berliner Autorin Gün
       Tank diesen Frauen ein literarisches Denkmal. Sie erzählt von der jungen
       Nour, die 1972 nach Deutschland kommt, um mit ihrer Arbeit die Familie in
       Istanbul zu unterstützen. Von Tülay, die ihre Kinder in Ankara zurücklässt,
       weil der Lohn ihres Mannes nicht ausreicht. Und von Mercedes, die vor dem
       faschistischen Franco-Regime aus Spanien flieht. Die drei treffen in der
       Oberpfalz, der tiefsten ostbayerischen Provinz, aufeinander und lernen
       schnell die Ungerechtigkeiten des bundesdeutschen Wirtschaftslebens
       kennen.
       
       Auf der Bühne des Studio Я, der kleinen Spielstätte des Berliner
       Maxim-Gorki-Theaters, stellen sich Ceren Bozkurt, Yanina Cerón und Aysima
       Ergün in eine Reihe auf und werden von der abseits stehenden Sema Poyraz im
       harschen Ton dazu aufgefordert, die Knie zu beugen, die Arme auszustrecken,
       die Zähne zu zeigen, alle Kleider abzulegen.
       
       „Es geht zu wie auf einem Pferdemarkt“, klagt eine von ihnen. Immerhin,
       sie bestehen den Test, werden eingestellt und dürfen fortan in einer
       Porzellanfabrik schuften, nach Feierabend in einem winzigen Zimmer
       schlafen und für diese „Unterkunft“ auch noch einen großen Teil des Lohns
       abdrücken. Bald begehren sie erstmals gegen die Ungerechtigkeiten auf,
       schreiben einen Protestbrief an den Bürgermeister und verlieren
       daraufhin ihre Jobs. Zum eigentlichen Streik kommt es aber erst später,
       bei der Firma Pierburg in Neuss.
       
       ## 2.000 Beschäftigte legen die Arbeit nieder
       
       Im Sommer 1973 legten hier 2.000 Beschäftigte die Arbeit nieder, ein
       Großteil von ihnen waren ausländische Arbeiterinnen. Gün Tank verarbeitet
       ihre Geschichte auch ausgehend von der Biografie ihrer Mutter, der früheren
       Bundestagsabgeordneten Azize Tank (Die Linke). Regisseurin Emel Aydoğdu
       nimmt diesen semidokumentarischen Charakter des Stoffs auf, indem sie die
       geschickt zusammengestrichene Handlung mit dokumentarischem Material
       anreichert.
       
       Im Bühnenhintergrund erscheinen Projektionen von Schlagzeilen aus
       Zeitungen, die über den damaligen Arbeitskampf berichteten. Dazu lässt
       Aydoğdu Stimmen von Zeitzeugen einspielen. Auch die jüngste
       Auseinandersetzung um die schlechten Arbeitsbedingungen der überwiegend
       migrantischen Belegschaft des [1][Berliner Bringdienst-Startups „Gorillas“]
       findet Erwähnung.
       
       Es handelt sich bei der eineinhalbstündigen Produktion mithin um eine
       postmigrantische Arbeit mustergültiger Ausprägung. Ihr Ziel besteht darin,
       vergessene Biografien und übersehene Geschichten zur deutschen Historie
       hinzuzufügen und den Einsatz ihrer Protagonistinnen zu würdigen. Aydoğdu
       wählt hierfür goldrichtig einen emotionalen Zugang, der vor allem über die
       Musik funktioniert. Ceren Bozkurt spielt Gitarre und Saz, singt
       Arbeiterlieder, ruft die Genossinnen zu den Barrikaden. Und die lassen sich
       nicht zweimal agitieren.
       
       ## Sie erzählen mit Verve
       
       Yanina Cerón, Aysima Ergün und Sema Poyraz erzählen mit Verve und Wärme vom
       Streik, von weiblicher Solidarität, von Freundschaft, Mut und Widerstand.
       Geschenkt, dass sie einen Großteil ihres Texts, wie bei Romanadaptionen
       üblich, recht statisch ins Publikum hineinsprechen. [2][Musik] und die gute
       Chemie der Schauspielerinnen untereinander tragen den Abend munter seinem
       Ziel entgegen: Am Ende hat man etwas Neues über Deutschland erfahren,
       [3][hat Geschichten und Lieder gehört, die auch zu diesem Land gehören].
       
       Diese Produktion bietet sicher eine der sympathischsten Lektionen in
       jüngerer deutscher Geschichte, die man derzeit in Berlin bekommen kann.
       
       Nächste Vorstellung: 8. Februar, 20.30 Uhr
       
       25 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Lebensmittellieferdienst-Gorillas/!5887224
   DIR [2] /Songs-of-Gastarbeiter-Teil-Zwei/!5829195
   DIR [3] /Schau-ueber-Plattenfirma-Trikont/!5941511
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Wolf
       
       ## TAGS
       
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