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       # taz.de -- Die Aktualität nomadischen Designs: Vom wenig romantischen Jurtenleben
       
       > Die Hamburger Ausstellung „Jurte jetzt!“ erklärt zwar schön nomadische
       > Symbole. Aktuelle Probleme zentralasiatischer Menschen deutet sie aber
       > nur an.
       
   IMG Bild: Schwarze Schuhe, durch Fäden verbunden, symbolisieren Gemeinschaft: „Unity“ von Altynai Osmoeva
       
       Hamburg taz | Man betritt diese Kunst-Jurte, natürlich auf Socken, und
       fühlt sich gleich wohl. Der rote Teppich, aus mehrlagigem Filz gearbeitet,
       wirkt überraschend warm auf dem kühlen Museumsboden. In der Mitte des roten
       Runds, analog zur Feuerstelle, liegt ein Spiegel, Symbol des Zentrums im
       kosmischen Raum, der Einbindung in Natur und Leben.
       
       „Unity“ hat die kirgisische Multimedia-Künstlerin Altynai Osmoeva ihre
       Installation betitelt, zu sehen derzeit in der Ausstellung „Jurte jetzt!
       Nomadisches Design neu gelebt“ in Hamburgs ethnografischem Museum MARKK.
       Wie seine Vorbilder ist der Teppich wie gemacht für die Jurten der
       [1][Nomaden] Zentralasiens mit seinen eiskalten Wintern und extrem heißen
       kontinentalen Sommern.
       
       Kirgisen, [2][Kasachen], Turkmenen, Usbeken und Mongolen: Sie alle nutzen
       Filz als Bodenbelag, aber seit Jahrhunderten auch für die Außenhaut der
       [3][Jurten]. Dann ruht das Material auf einem ausgeklügelten Holzgestänge
       ohne einen einzigen Nage. Drei-, viermal jährlich wird das Ganze ab- und
       aufgebaut, wenn die Hirten ihren Rindern, Ziegen, Schafen auf Sommer-
       beziehungsweise Winterweiden folgen.
       
       Außer zerdrücktem Gras bleibt dann nichts zurück – und genau diese
       Nachhaltigkeit hat die Künstlerin gereizt. Lange wusste Osmoeva dabei
       selbst nicht, warum sie stets mit Filz arbeitete. Irgendwann begriff sie:
       „Das ist Teil meiner Kultur, meiner Identität“, hat sie 2021 gesagt.
       Seither versuche sie eine „Reinterpretation meiner Kultur durch das Prisma
       zeitgenössischer Kunst“.
       
       ## Künstlerin ist auch Sozialunternehmerin
       
       Für die Künstlerin, die auch ein erklärt nachhaltiges Modelabel gründete
       und kirgisische Frauen alte Filztechniken lehrt, ist das einerseits eine
       ökologische Botschaft. Daneben hat eine Arbeit wie „Unity“ auch eine
       politische Facette: „Je mehr Gäste, desto mehr Segen“, lautet übersetzt der
       Untertitel. Den erwähnten roten Teppich rahmen etliche schwarze Schuhe,
       verbunden wiederum durch rote Fäden, die einen spitz zulaufenden Vorhang
       bilden.
       
       Erstmals gezeigt hat Osmoeva „Unity“ im Jahr 2020 in [4][Bischkek,] „zwei
       Monate nach der dritten Revolution in Kirgisistan“, erzählt sie. „Die Leute
       waren die politischen Unruhen, die strauchelnde Wirtschaft leid – und dazu
       die Pandemie. Das war der perfekte Moment, die Leute durch diese Jurte zur
       für Reflexion über kulturelle Identität und Gemeinsamkeit zu animieren.“
       
       In der Hamburger Ausstellung bildet Osmoevas Installation eine Verbindung
       zwischen zwei echten Jurten aus den Beständen des lange der „Völkerkunde“
       gewidmeten Hauses: Neben einer rudimentär erhaltenen kasachischen steht da
       auch eine prächtige kirgisische aus den 1970er-Jahren; das MARKK bekam sie
       2017 geschenkt. Abgebildet sind Tier- und Pflanzenornamente, die für
       Wohlstand, Gesundheit, Segen stehen. Einige sind an der Saalwand erklärt,
       und es macht Spaß, beim Ausstellungsbesuch Symbole auf der Jurte zu
       „entziffern“.
       
       Kein Spaß ist das Nomadenleben, das durch sowjetische Kollektivierung – und
       seit 1990 die Marktwirtschaft – zunehmend verschwindet. In einem
       Video-Interview erzählen eine junge Kirgisin und ihr Neffe von
       Kindheitsferien in der Jurte, dem häufigen Auf- und Abbau, einem mühsamen
       Alltag. Heute studieren und arbeiten die beiden in Deutschland und scheinen
       nicht ins Nomadenleben zurück zu wollen.
       
       Auch aus der mongolischen Steppe flüchten Hirten in die Stadt: Der
       Klimawandel bringt mehr harte Winter und schwere Dürren, sodass ihre Herden
       sterben. Zudem gieren in Steppe und der Wüste Gobi, dem Lebensraum der
       Nomaden, internationale Investoren nach [5][Kohle], Kupfer, Gold, Uran,
       Erdöl, Seltenen Erden.
       
       Eine Folge: Drei Viertel der mongolischen Nomaden sind in den vergangenen
       Jahren in die Hauptstadt Ulan Bator gezogen. An deren Rand bietet der Staat
       jedem ein kostenloses Grundstück, um dort eine Jurte – auf Mongolisch: Ger
       – zu errichten. Dadurch sollte die Kritik daran eingedämmt werden, dass der
       [6][mongolische Staat] seien profitablen Zecnen für ausländische Investoren
       öffnete. Geklappt hat das nicht. Auch die [7][Forderung], die verarmte
       Bevölkerung am Gewinn aus den Bodenschätzen zu beteiligen, wird weiterhin
       erhoben.
       
       Rund um Ulan Bator, das zeigt eine Luftaufnahme in der Ausstellung, sind
       riesige Ger-Siedlungen entstanden. Etwa 800.000 Menschen leben hier, das
       sind 70 Prozent der Stadtbevölkerkung. An Wasser-, Strom- und Heizungsnetz
       angeschlossen sind diese Siedlungen nicht, geheizt wird mit Kohle, das
       Wasser muss, wie einst in der Steppe, von weither geholt werden.
       
       Videos in der Schau zeigen dieses mühsame Leben: Ein alter Mann sagt, er
       würde eine moderne Wohnung bevorzugen, aber das sei teuer. Eine junge Frau
       erzählt, die Städter blickten herab auf die Ger-Leute. Daher achte sie
       darauf, sich „nicht merkwürdig zu kleiden“, um nicht als Frau vom Land
       erkennbar zu sein.
       
       ## Stadtleben als „Kulturschock“
       
       Ein weiterer „Kulturschock“ für die Nomaden ist das Zusammenleben auf engen
       Raum und das Einzäunen von Grundstücken. Für eine „Gemeinschaft“ jenseits
       der Familie existiert unter den weit verstreut lebenden Nomaden nicht mal
       ein Wort. Und weil sie als Kulturpraxis nicht eingeübt sind, gibt es jetzt
       auch nur wenige nachbarschaftliche Beziehungen in den Ger-Siedlungen.
       
       Herausgefunden hat all dies das „Rural Urban Framework“ (RUF), ein
       Forschungs- und Designkollektiv um Joshua Bolchover and John Lin. Es will
       sich „in der ländlich-städtischen Transformation in China und der Mongolei
       engagieren“, unter anderem durch Bauprojekte, Forschung und Ausstellungen,
       so steht es auf der Homepage. Als Non-Profit-Organisation kooperiere RUF
       mit Wohltätigkeitsorganisationen, chinesischen Regierungsabteilungen und
       Universitäten. „Auch die Architekturfakultät der Universität Hong Kong ist
       beteiligt“, ist da zu lesen.
       
       Von der Beteiligung des chinesischen Staates erfährt man in der Ausstellung
       und der begleitenden Broschüre nichts. Dafür findet sich, überschrieben mit
       „Urbanisierung nomadischer Architektur“, das Modell eines von RUF
       entworfenen Apartmenthauses, in dem drei Ger durch Gemeinschaftsräume
       verbunden sind – Appell und Chance, Gemeinschaft zu üben. Andere Modelle
       nutzen mehrlagige Wände, um Wärme besser zu speichern und so Kohle zu
       sparen. Dass solche Innovationen vom eigentlichen Problem der fehlenden
       infrastruktuellen Anbindung ablenken, beleuchtet die Ausstellung nicht.
       
       ## Kolonialfotos aus der Zarenzeit
       
       Immerhin verweist sie auf die Kolonisation durch das zaristische Russland:
       Der Ethnograf Samuil Dudin hat 1899 in staatlichem Auftrag kasachische
       Nomaden fotografiert. Einige dieser Fotos aus dem Museumsbestand hängen in
       der Schau. Fern, winzig und anonym sieht man Jurten, Karren, Menschen am
       Horizont. Anderswo sitzen Nomaden wie Objekte aufgereiht da, mit starrem
       Blick in die Kamera.
       
       Und obwohl das MARKK seit einiger Zeit nicht nur seine Bestände, sondern
       auch seine Präsentation auf den kolonialen Blick hin befragt: In dieser
       Ausstellung wird er eher reproduziert: Wie Kostüme hängen nomadische Hosen,
       Mützen, Schmuck da in Vitrinen. Zum Erkenntnisgewinn tragen sie in ihrer
       vermeintlichen Exotik wenig bei – so wenig wie die ganze, unentschlossen
       wirkende Schau.
       
       4 Feb 2024
       
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       die heute schlicht imperialistisch sind. Und damit falsch.