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       # taz.de -- Übergriffe im Metaverse: „Zieh doch einfach die Brille ab“
       
       > In mehreren Berichten erzählen Betroffene von sexualisierter Gewalt im
       > Metaverse. Doch die aktuelle Rechtslage schützt Betroffene kaum.
       
   IMG Bild: Dunkles Metaverse: Headset zum Eintritt in die virtuelle Realität
       
       Eine bittere Wahrheit: Wo Menschen zusammenkommen, findet sexualisierte
       Gewalt statt. Doch wie geht eine Gesellschaft damit um, wenn nicht Körper
       aus Fleisch und Blut angegriffen werden, sondern digitale Avatare in
       virtuellen Räumen?
       
       In England ermittelt aktuell die Polizei erstmals zu solch einem virtuellen
       Übergriff. So berichtete es Anfang 2024 zuerst die Boulevardzeitung
       [1][Daily Mail]. Eine Gruppe erwachsener Männer soll im Metaverse mit ihren
       Avataren einen anderen Avatar vergewaltigt haben. Dieser habe einem Mädchen
       gehört, das jünger als 16 Jahre ist. Der Polizei zufolge zeige das Mädchen
       ähnliche Reaktionen wie auf eine Vergewaltigung in der realen Welt.
       
       Das Metaverse ist eine digitale, dreidimensionale Welt, in der die
       Nutzer*innen sich einen eigenen Avatar erstellen und sich frei bewegen
       können. Es gibt Bars, Comedyclubs oder Basketballplätze. Mit einer
       speziellen Brille spannen sich Nutzer*innen den Bildschirm direkt vor
       die Augen, sodass sie sich in alle Richtungen in der digitalen Welt
       umschauen können. Sensoren verfolgen die Bewegungen und übertragen sie.
       Möglichst immersiv soll die Erfahrung sein – die Nutzer*innen tauchen in
       die digitale Welt ein, als wäre sie real.
       
       Die mutmaßliche virtuelle Vergewaltigung des englischen Mädchens ist kein
       Einzelfall. Die [2][Vogue] berichtet von Catherine Allen, die im Metaverse
       ein siebenjähriges Mädchen traf, dessen Avatar erwachsen aussah, weil alle
       Avatare wie Erwachsene aussehen. Nach wenigen Minuten habe sich eine Gruppe
       Männer um sie gestellt und gewitzelt, sie vergewaltigen zu wollen.
       
       ## „Sehr real“
       
       Die [3][New York Times] berichtet über Chanelle Siggens Avatar, der von
       einem Mann betatscht wurde, der so tat, als ejakuliere er auf sie. In der
       englischen [4][Times ] schreibt der Journalist Hugo Rifkind, ein Mann habe
       seinem Avatar in den Schritt gefasst. Dem [5][Guardian ] berichtet die
       Psychotherapeutin und VR-Expertin Nina Jane Patel von drei bis vier
       männlich wirkenden Avataren, die sie umringten und verbal sowie sexuell
       belästigten – innerhalb der ersten Minute, nachdem sie die Plattform
       betrat. „Körperlich und psychisch fühlt es sich sehr real an“, sagt Patel.
       
       Doch viele halten diese Vorfälle für harmlos. Die Kommentarspalten in den
       sozialen Medien sind voll von Kommentaren wie: „Zieh doch einfach das
       Headset aus“, oder: „Wenn ich in einem Computerspiel getötet werde, ist das
       doch auch kein Mord.“ Den Betroffenen wird die Verantwortung für den
       Übergriff zugeschoben – ein victim blaming ähnlich dem altbekannten Vorwurf
       des zu kurzen Rocks. Patel [6][sagt dazu], sie sei wie eingefroren und
       nicht mehr in der Lage gewesen zu reagieren.
       
       „Warum sollte ein Medium, das als ein Ziel versucht, zentrale Aspekte des
       Erlebens einer realen Umgebung zu simulieren, das Wesen und Verhalten der
       Menschen in diesem Medium ändern?“, fragt Marc Latoschik. Wenn man
       versuche, ein möglichst realistisches Abbild der realen Welt zu schaffen,
       verursache das auch ähnliche Probleme wie in der Realität. Latoschik ist
       Lehrstuhlinhaber für Mensch-Computer-Interaktionen an der Universität
       Würzburg. Sein Bücherregal ist gefüllt mit Science-Fiction-Klassikern. Der
       Name Metaverse stamme nicht etwa vom Meta-Chef Mark Zuckerberg, sondern
       Neal Stephenson habe ihn 1992 im Science-Fiction-Roman „Snow Crash“
       geprägt.
       
       „Es ist ein Medium von Chancen und Risiken, man darf nicht blauäugig sein,
       es aber auch nicht verteufeln“, sagt Latoschik. Er sieht besonders im
       Therapie- und Trainingsbereich Chancen, die Technologie einzusetzen. So
       zeigte [7][eine Studie] der Oxford-Universität 2018, dass mithilfe von
       VR-Simulationen Höhenangst behandelt werden kann. Latoschik sieht auch
       Potenzial in Partizipationsformaten für den ländlichen Raum. Im Gegensatz
       zu ermüdenden Videokonferenzen, ermögliche VR nonverbale Kommunikation, und
       man müsse nicht ständig ins eigene Gesicht sehen.
       
       ## Vergewaltigungstaverne
       
       Latoschik beschäftigt sich auch mit den Risiken von VR. „Dark sides of VR“,
       nennt er das. So könne etwa missbraucht werden, dass VR starke Emotionen
       transportiere. „Je immersiver die Erfahrung wird, umso stärker ist die
       emotionale Reaktion auf Erlebtes“, sagt Latoschik. „Je mehr ich Realität in
       VR-Räume verlagere, umso größer wird das Risiko, ähnlichen Gefahren wie in
       der Realität ausgesetzt zu werden, die Erfahrungen werden tendenziell immer
       realistischer und damit immer lebensnaher.“
       
       Auch Kerstin Demuth vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und
       Frauennotrufe (BFF) überraschen die Berichte zu den Übergriffen wenig.
       „Jede Technologie wird irgendwann für Gewalt genutzt“, sagt sie. Das kenne
       man etwa schon aus Onlinespielen wie „World of Warcraft“, wo es eine
       sogenannte [8][Rape Tavern] (Vergewaltigungstaverne) gab.
       
       Die immersive Erfahrung von VR könne zwar dazu beitragen, dass sich das
       Erlebte näher anfühlt. Doch auch nicht einvernehmlich empfangene Nacktfotos
       etwa können sich ähnlich auf die Psyche von Menschen auswirken wie
       körperliche sexualisierte Gewalt. „Was wir jetzt im Metaverse sehen, ist
       eine Fortsetzung dessen, was wir in der Tendenz im digitalen Raum sowieso
       schon gesehen haben“, sagt Demuth.
       
       Besonders der ehemalige Facebook-Konzern setzt auf VR und hat sich deswegen
       sogar in Meta umbenannt. Eine Meta-Sprecherin schreibt der taz zu den
       Übergriffen im Metaverse: „Diese Art von Verhalten hat auf unserer
       Plattform keinen Platz.“ Man wolle, dass alle Nutzer*innen gute
       Erfahrungen machen und leicht Werkzeuge finden, die ihnen helfen, solche
       Situationen zu verhindern. Meta ermittele und ergreife Maßnahmen. Die
       Sprecherin verweist zudem auf eine standardmäßig aktivierte Barriere, die
       unbekannte Avatare auf Abstand hält. Nutzer*innen können die Barriere
       ausschalten, wenn sie dem Gegenüber vertrauen. In der analogen Welt werden
       die meisten Übergriffe von Menschen aus dem näheren Umfeld begangen.
       
       ## Strafrechtliche Verfolgung schwer umsetzbar in Deutschland
       
       Eine strafrechtliche Verfolgung der virtuellen Übergriffe scheint derzeit
       in Deutschland schwer umsetzbar. Bisher ist eine Verfolgung nur in
       speziellen Fällen über das Pornografiestrafrecht möglich oder dann, wenn
       Kinder oder Kindern nachempfundene Avatare betroffen sind. Das bestätigten
       das Bundeskriminalamt (BKA) und auch das Justizministerium (BMJ) auf
       taz-Anfragen: „Eine virtuelle Vergewaltigung eines Avatars ist nicht
       strafbewehrt“, schreibt eine BKA-Sprecherin. Die Gesetze zu Sexualdelikten
       knüpften an die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen an. Damit ist
       nur der analoge Körper geschützt, nicht der virtuelle.
       
       Das BMJ sieht keinen Änderungsbedarf. „Unser Strafrecht ist bereits heute
       gut aufgestellt, um die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen effektiv zu
       schützen und jegliche Form der Gewalt gegen Frauen effektiv zu
       sanktionieren, auch im digitalen Bereich“, schreibt eine
       Ministeriumssprecherin. Aus den Antworten von BKA und BMJ geht aber hervor:
       Erwachsene sind grundsätzlich nicht geschützt. Auch der Deutsche
       Juristinnenbund stellte im Juni 2023 zu sexualisierter Gewalt durch Bilder
       fest, es bestehe ein „lückenhafter und unsystematischer strafrechtlicher
       Schutz Erwachsener“.
       
       Dass das Strafrecht gut aufgestellt ist, um jegliche Form der digitalen
       Gewalt zu bekämpfen, wie das BMJ behauptet, ist also zumindest umstritten.
       Wie kann Betroffenen dann geholfen werden? Kerstin Demuth vom BFF und
       Forscher Marc Latoschik haben Ideen.
       
       ## Plattformen brauchen Präventionsmaßnahmen
       
       Latoschik wünscht sich eine gemeinwohlorientierte VR-Plattform, die den
       Schutz der Nutzer*innen mitdenkt. Er kritisiert, dass die großen
       Plattformen den Profitinteressen von Konzernen unterworfen sind. „Es gibt
       kaum Alternativen für Menschen, die diese Räume nutzen wollen, das versäumt
       die Politik“, sagt Latoschik. Auch eine Pflicht, in bestimmten Räumen
       Klarnamen zu benutzen, befürwortet er.
       
       Kerstin Demuth setzt vor allem auf gesellschaftspolitische Maßnahmen. „Wir
       müssen schon in jungen Jahren über Sexualität, Grenzen und Konsens
       aufklären“, sagt die Expertin für digitale Gewalt. Zudem gelte es, das
       Machtgefälle auszugleichen, das durch Unterschiede in der IT- und
       Medienkompetenz entstehe.
       
       Demuth fordert zudem, die Plattformen zur Verantwortung zu ziehen: Sie
       dürften nicht warten, bis Übergriffe passieren, sondern müssten
       Präventionsmaßnahmen, Nothilfe und Akutmaßnahmen einbauen. Demuth sagt:
       „Sobald ich so ein Produkt entwickele, muss ich mich fragen: Wie kann ein
       Stalker dieses Produkt nutzen? Was kann ich ändern, um das Risiko zu
       verringern, dass mein Produkt für geschlechtsspezifische Gewalt verwendet
       wird?“ Sie rät, sich an Frauennotrufe oder Beratungsstellen zu wenden. Man
       dürfe nichts kleinreden, nur weil der Übergriff in virtuellen Räumen
       passiere. Von Nichtbetroffenen fordert sie Zivilcourage – auch in der
       virtuellen Realität.
       
       2 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.dailymail.co.uk/news/article-12917329/Police-launch-investigation-kind-virtual-rape-metaverse.html
   DIR [2] https://www.vogue.co.uk/arts-and-lifestyle/article/sexual-assault-in-the-metaverse
   DIR [3] https://www.nytimes.com/2021/12/30/technology/metaverse-harassment-assaults.html
   DIR [4] https://www.thetimes.co.uk/article/everything-facebook-did-badly-could-be-much-worse-in-the-metaverse-glrttr7rt
   DIR [5] https://www.theguardian.com/technology/2022/may/14/can-we-create-a-moral-metaverse
   DIR [6] https://www.youtube.com/watch?v=edc05hUfwQ8
   DIR [7] https://www.thelancet.com/journals/lanpsy/article/PIIS2215-0366(18)30226-8/fulltext
   DIR [8] https://www.vice.com/de/article/bjvyp5/wie-world-of-warcraft-spieler-gegen-die-ubergriffe-in-der-rape-taverne-vorgehen
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Moritz Müllender
       
       ## TAGS
       
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