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       # taz.de -- Shoa-Überlebender über Ghetto-Fotos: „Schaut in alte Alben“
       
       > Marian Turski (98) appelliert an die Deutschen, Dokumente des Holocausts
       > zu retten. Unlängst wurden ihm Fotos aus dem Warschauer Ghetto übergeben.
       
   IMG Bild: Frank-Walter Steinmeier übergibt Marian Turski Fotografien der deutschen Lazarettschwester Helmy Spethmann aus dem Warschauer Ghetto
       
       taz: Herr Turski, vor einigen Tagen erhielten Sie als Repräsentant des
       [1][Jüdischen Geschichtsmuseums Polin] 23 [2][Fotos aus dem Warschauer
       Ghetto]. Was zeigen diese Bilder? 
       
       Marian Turski: Die Bilder hat die deutsche Lazarettschwester [3][Helmy
       Spethmann] aufgenommen. Sie zeigen Szenen aus dem Alltag im Ghetto:
       Straßen, Leute, die auf etwas warten – vielleicht auf Arbeit, auf Essen,
       auf ein bisschen Glück? Es ist sehr kalt. Es regnet und windet. Dabei ist
       das im Jahre 1941 noch nicht einmal die schlimmste Zeit. Noch fährt die
       Straßenbahn mit dem Schild „Muranow“. Dann gibt es aber auch Bilder, die
       den Tod zeigen, eine Beerdigung in der Nähe des jüdischen Friedhofs oder
       vielleicht sogar auf dem Friedhof. Einen hölzernen Leichenwagen,
       Totengräber, ausgemergelte Tote auf Tragen, einen Rabbiner.
       
       Wie wichtig sind diese Bilder für die Geschichte des Warschauer Ghettos? 
       
       Sie sind enorm wichtig. Überhaupt sind alle Fotos, die den Holocaust
       dokumentieren, sehr wichtig. Dabei unterscheiden wir die Bilder aber vor
       allem nach der Intention der Fotografen. Die Bilder der Propagandakompanie
       des SS-Führers Jürgen Stroop sind wichtig, weil wir keine anderen von der
       Liquidierung des Warschauer Ghettos haben. Aber wenn deutsche Soldaten den
       polnischen Juden die Bärte und Schläfenlocken abschneiden – und die
       Fotografen auf den Auslöser drücken, ist die Intention klar: Verachtung und
       Erniedrigung. Für uns aber sind die Bilder wichtig, weil sie den Weg der
       Opfer von der Dehumanisierung zur Vernichtung zeigen.
       
       Und Helmy Spethmann. Was für ein Motiv hatte die
       Wehrmachtskrankenschwester? 
       
       Das ist schwer zu sagen. Auf diese Frage ging auch [4][Präsident
       Frank-Walter Steinmeier] ein, als er uns die Bilder übereignete. Denn Frau
       Spethmann schrieb auch einige Briefe an ihre Schwester im Deutschen Reich,
       wo sie kurz „das große Elend im Judenviertel“ beschreibt und das
       „Seuchensperrgebiet, dessen Betreten streng verboten war“. Sie kündigt
       mehrfach in ihren Briefen an, mehr darüber erzählen zu wollen, wenn sie
       erst wieder zu Hause sei. Doch das scheint sie nie getan zu haben. Und die
       Fotos versteckte sie im Umschlag eines Fotoalbums. Sie scheint Angst gehabt
       zu haben. Erst auf dem Totenbett vertraute sie ihrer Nichte das Album an.
       
       Aber kann man aus den Fotos nicht die Intention der Fotografin herauslesen? 
       
       Ich persönlich gehe davon aus, dass sie die Bilder aus Empathie mit den
       polnischen Juden aufgenommen hat, dann aber Angst vor der eigenen Courage
       bekommen hat. Als Präsident Steinmeier uns die 23 Bilder überreichte,
       zitierte er Rachela Auerbach, eine der wenigen Überlebenden des Warschauer
       Ghetto-Aufstandes 1943. Ich habe mir das Zitat notiert: „Mit eisernem Besen
       fegen die ersten kalten Tage jene fort, die schon jetzt auf der Straße
       leben, die all ihre Kleidung verkauft haben und schwach wie die
       Herbstfliegen sind. Vergebens die unglaubliche Lebenskraft der Warschauer
       Juden. Sie schreien und sie wehren sich bis zum Schluss, bis zur letzten
       Stunde und Minute, aber diese Stunde und Minute wird kommen.“ Steinmeier
       hat das richtige Zitat gefunden, denn genau das sagen die Bilder von Helmy
       Spethmann aus.
       
       Warum zögerte die Familie so lange, die Ghetto-Bilder Polin oder einem
       anderen polnischen Museum zu übereignen? 
       
       Das weiß ich nicht. Aber als Holocaust-Überlebender habe ich eine große
       Bitte an alle Deutschen, an die Enkel und Urenkel derjenigen, die am Krieg
       teilgenommen haben: Es trifft euch keine Schuld. Ihr habt die Geschichte
       geerbt, so wie sie nun mal ist. Aber – so mein inständiger Appell: Schaut
       in die Schubladen, in alte Koffer und Fotoalben! Vielleicht finden sich
       dort auch Fotos aus anderen Ghettos oder überhaupt aus dem deutsch
       besetzten Polen. Werft diese Fotos und Andenken nicht weg! Für uns sind sie
       von großem Wert. Das Museum Polin ist dankbar für jeden noch so kleinen
       Hinweis.
       
       An diesem Samstag ist der 79. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Was
       bedeutet das für Sie als ehemaligen Auschwitz-Häftling? 
       
       Für mich persönlich war der 27. Januar 1945 noch nicht der Tag der
       Befreiung. Der kam erst am 9. Mai, als ich nach dem zweiten Todesmarsch von
       Buchenwald nach Theresienstadt dort befreit wurde. Aber ich hatte
       Fleckfieber, war völlig apathisch und unfähig, auch nur einen Funken an
       Freude zu empfinden. Aber allgemein gesehen ist für uns Juden der 27.
       Januar der Tag der Befreiung.
       
       An einem der letzten Gedenktage forderten Sie die Europäer auf: „Seid nicht
       gleichgültig!“ Seit einigen Tagen gehen in Deutschland hunderttausende aus
       Protest gegen die AfD auf die Straße. In Polen haben im Oktober 2023 rund
       zwölf Millionen Polen die regierenden Nationalpopulisten abgewählt. Ist es
       das, worum es Ihnen geht? 
       
       Ja, absolut. Die Demonstranten in Deutschland haben schon verstanden, dass
       man sich gegen Populisten und Antieuropäer wehren muss, bevor diese die
       Demokratie zerstören können. In Polen ist die Situation eine andere. Hier
       mussten die Bürger acht Jahre lang mit ansehen, wie sich die Korruption
       ungestraft ausbreitete und [5][die regierende „Recht und Gerechtigkeit
       (PiS)] den Rechtsstaat aushöhlte. Millionen Polen verstanden, dass jeder
       individuell etwas tun kann, um den polnischen Staat zu retten. Noch nie
       sind so viele Polen an die Wahlurnen gegangen, über 70 Prozent der
       Wahlberechtigten. Ich will jetzt nicht sagen, dass das mein Verdienst ist.
       Aber ja: Die Polen haben verstanden, dass sie nicht gleichgültig und passiv
       einem verhängnisvollen Zeitenlauf zusehen dürfen. Vielmehr müssen sie die
       Verteidigung der Demokratie ganz individuell in die eigene Hand nehmen. Und
       das haben sie getan.
       
       27 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.polin.pl/en
   DIR [2] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Berichte/DE/Frank-Walter-Steinmeier/2024/01/240117-Uebergabe-Fotos-Warschauer-Ghetto.html
   DIR [3] /Ingelene-Rodewald-ueber-die-NS-Zeit/!5039393
   DIR [4] /Besuch-des-Bundespraesidenten-in-Polen/!5926260
   DIR [5] /Kampagne-der-Regierung-in-Polen/!5926279
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gabriele Lesser
       
       ## TAGS
       
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