URI: 
       # taz.de -- Der Hausbesuch: Erst später stellte sie Fragen
       
       > In den Jugendjahren der Kinderärztin war der Vater abwesend. Erst als sie
       > erwachsen ist, arbeitet sie Rassismus-Erfahrungen auf – und sucht nach
       > ihm.
       
   IMG Bild: Damals in Meerbusch spürte Jutta Weber eine diffuse Wut
       
       Ob es möglich ist, jemanden zu vermissen, den man nicht kennt? Ja, sagt
       Jutta Weber. Sie weiß es, seit sie in Kontakt ist mit ihrem leiblichen
       Vater, einem gebürtigen Jamaikaner.
       
       Draußen: Hinter dem gusseisernen Gartentor wirft die weiße Stadtvilla in
       Krefeld-Cracau, gebaut 1894, Schatten in den unauffälligen Vorgarten.
       Gebaut hat die Villa ein Fahrradfabrikant. Später lebten dort mehrere
       Lehrkräfte, dann zwölf Leute in einer WG, schließlich eine Familie mit
       drei Mädchen. Seit 2008 gehört das Haus Jutta Webers Familie.
       
       Drinnen: Ein großer Esstisch mit acht Stühlen steht in der Mitte des
       Raumes. Daneben ein Klavier. „Das hat mir meine Patentante geschenkt, als
       ich zwölf war“, sagt Jutta Weber. Auf der Fensterbank steht ein Foto von
       Weber und ihrem leiblichen Vater, dem sie erst vor knapp zehn Jahren
       begegnet ist. „Jetzt fehlt er mir gerade wieder – er ist erst seit einer
       Woche weg.“ Zwei Stockwerke höher befindet sich Webers Therapiezimmer.
       Neben ihrer Arbeit als Kinderärztin bietet sie tiefenpsychologische
       Psychotherapien an, seit 2020 mit rassismussensiblem Schwerpunkt. Das
       liegt an ihrer eigenen Geschichte.
       
       Perspektiven: Inzwischen sei es schwieriger geworden, diese Geschichte
       stimmig zu erzählen, sagt Weber gleich zu Beginn. Denn zu der Perspektive
       Jutta Webers haben sich weitere gesellt. „Es gibt so viele
       Querverbindungen, und ich kenne so viel Auflösungen und andere Geschichten,
       auch von der Seite meines Vaters.“ Dieser ist der jamaikanische Saxofonist
       Owen McFarlane, der in den ersten 50 Lebensjahren Webers kein Gesicht,
       höchstens einen Namen hat. Es ist die Geschichte von Webers weißer Mutter,
       die nach einer flüchtigen Begegnung mit Webers Vater im Deutschland der
       60er Jahre ein Schwarzes Kind zur Welt bringt und aufzieht. Es ist die
       Geschichte von zwei Familien, die sich finden und erst im Moment des
       Findens bemerken, dass dort vielleicht zuvor eine Lücke herrschte. Aber vor
       allem ist es die Geschichte von Jutta Weber, die, aufgewachsen und
       sozialisiert in einer weißen Welt, einen [1][Zugang zu ihrem Schwarzsein]
       fand, nachdem sie ihren Vater fand.
       
       Kindheit: Jutta Weber wächst in Meerbusch auf. Die Beziehung zwischen ihrer
       Mutter und dem Stiefvater erlebt sie als „konfliktreich“. Sie sei nach
       außen ein fröhliches Kind gewesen, reich an Ideen, guter Laune und
       Freund:innen. Aber teils bricht das Gefühl der Zugehörigkeit an Fragen
       anderer Kinder: Wo sie denn herkomme? Warum sie anders als ihre Eltern
       aussehe. „Das hat nicht zu meiner Selbstwahrnehmung gepasst. Ich musste
       dieses Gefühl, dass etwas anders ist, komplett wegsperren“, sagt Weber.
       „Erst im Rückblick habe ich bemerkt, [2][dass da oft Wut war].“
       
       Wortlosigkeit: Die Wut kommt in Momenten zum Vorschein, in denen die
       körperliche Distanz nicht gewahrt wird. „Wenn mir jemand in die Haare
       gefasst oder mir an den stramm geflochtenen Zöpfen gezogen hat.“ Das, sagt
       Weber, sei „ein absoluter Trigger“ gewesen. Dann nimmt sie die, die an den
       Haaren ziehen, in den Schwitzkasten oder wirft sie zu Boden. Worte für das,
       was ihr widerfährt, hat Weber nicht. Die Sprachlosigkeit zieht sich durch
       ihre Familie. „Meine Erfahrungen wurden nicht thematisiert.“ Zwar stellt
       sich die Mutter schützend vor sie, empfiehlt ihr aber, die
       Übergriffigkeiten zu ignorieren. „Ich hätte mir einen Dialog mit ihr
       gewünscht.“ Die 60er, sagt Weber, seien aber eine „wortlose Zeit“ gewesen.
       
       Suche: Weber sucht ihren Vater nur sporadisch. Die Suche ist für sie
       schambesetzt. „Aber meine Kinder haben extrem viel gefragt.“ Fragen, auf
       die Jutta Weber, damals 42, nur wenige Antworten hat. Durch ihre Mutter
       erfährt sie von einem Gerichtsverfahren zur Vaterschaftsfeststellung. In
       den Akten steht ein Name: McFarlane, Owen. Kurz gibt Weber den Namen in
       die Suchmaschine ein. Dann schließt sie das Browserfenster. „Ich hatte den
       Mut nicht und sehr viele Bedenken“, sagt sie. „Vielleicht störe ich eine
       andere Familie. Oder er lebt nicht mehr. Oder er erinnert sich nicht.“
       Wieder vergehen acht Jahre. Dann beginnt die Tochter im Internet zu suchen
       und stößt schließlich auf ein verpixeltes Facebook-Foto eines Mannes,
       dessen Züge ihren ähneln.
       
       Der Vater: Weber erzählt von dem Moment der Kontaktaufnahme im Juli 2014,
       vom zögerlichen Anschreiben und vom Antworterhalten. Große Gefühlswallungen
       habe sie nicht gehabt, sagt sie. Ob er mal in Deutschland Musik gemacht
       habe, in den 60ern, fragt Weber. Ja, ist die Antwort, und: „Wenn dein Name
       Jutta ist, dann bin ich dein Vater. Ich habe immer ein Foto von dir in der
       Brieftasche und auf diesen Moment habe ich immer gewartet.“ Wieder sind es
       die Worte, die fehlen. „Das ist auf jeden Fall ein Stück zu groß“, sagt
       Weber. Aber: „Von da an haben wir jeden Tag geschrieben“, sagt sie und es
       gesellt sich eine neue Geschichte zu der ihrigen und zu der ihrer Mutter.
       Nämlich die von Owen McFarlane, der mittlerweile in der kanadischen Stadt
       Edmonton lebt, Frau und Kinder hat und statt mit der Musik, als Steuer- und
       Wirtschaftsberater sein Geld verdient. Drei Monate später, im Oktober 2014,
       besucht er sie in Deutschland.
       
       Vertrautheit: Wenn Jutta Weber sich an die erste Umarmung erinnert, ist da
       vor allem ein Gefühl von Vertrautheit. „Das war das Erstaunlichste. Alles
       an ihm kam mir vertraut vor.“ Es ist das erste von vielen Treffen. „Wir
       sind uns sehr nahe“, sagt Weber. Aber wie können all die Jahre nachgeholt
       werden? Jutta Weber schüttelt den Kopf. „Das geht gar nicht.“ Stattdessen
       verbringen sie die Gegenwart miteinander, schreiben sich oft. Alle zwei
       Jahre treffen sich die gesamten Familien, ihre und seine, auf Jamaika.
       „Dort wohnen noch Verwandte, zum Beispiel die Cousine meines Vaters“, sagt
       Weber. „In den Jahren, in denen wir nicht auf Jamaika sind, kommt er mich
       besuchen“, sagt Weber.
       
       Fragen: Das Unbehagen, das Weber jahrelang hatte, ist unspezifisch und
       manifestiert sich nur latent. „Ich hatte absolut Schiss vor Kontakt zu
       Schwarzen Menschen. Ich wollte davon nichts wissen. Ich habe einfach
       gedacht: ‚Ich weiß nichts vom Schwarzsein‘“, sagt Weber. Mit ihrem heutigen
       Wissen, habe sich ihre Perspektive geändert – besonders auf das, was
       Schwarze Kinder weißer Eltern brauchen könnten. „Eltern sollten einen Raum
       schaffen, in dem das Kind seine Erfahrungen, die es draußen macht,
       aussprechen kann – ohne dass es Angst haben muss, dass es dadurch auch von
       den Eltern zum ‚Anderen‘ gemacht wird“, sagt sie. Schwarze Räume
       aufzusuchen, sei wesentlich – aufgrund der geteilten Erfahrungen.
       
       Briefe: Über ihre Erfahrungen hat Weber ein Buch geschrieben. Nicht lange
       nach der Veröffentlichung flattern Leser:innenbriefe in ihre
       Postfächer: Sie erhält Nachrichten über Facebook und handgeschriebene
       Briefe. Die Briefe stammen von Menschen, deren Geschichte der Webers
       gleicht, die auf der Suche sind, die noch zögern oder die Fragen haben, wie
       sie sie einst hatte. „Es gab sehr viele Briefe von Menschen, die ihre Väter
       nicht kennen“, sagt Weber. „Und die sich dadurch ermutigt fühlten, zu
       suchen“. Aktuell schreibt sie ein weiteres Buch; es geht um Kinder, um den
       politischen Austausch mit diesen, um den Umgang mit sozialen Medien, um
       Verantwortungsbewusstsein und um das Private, das Weber als politisch
       begreift.
       
       Schwarze Community: Das Politische hat Einzug in ihre Beziehungen gefunden.
       „Meine ganzen alten engen Freundinnen sind weiß“, sagt Weber. Mit diesen
       Menschen teile sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. „Die liebe ich
       kein bisschen weniger“, sagt sie, die mittlerweile den Anschluss an
       verschiedene Schwarze Communitys deutschlandweit gefunden hat. „Das ist ein
       ganz anderes Gefühl als in weißen Räumen, denn dort bin ich bei Themen, die
       das Schwarzsein betreffen, geschützter.“ Jeden ersten Samstag im Monat hält
       sie einen Empowerment-Workshop. Das Treffen im Katholischen Forum der
       Felbelstraße 25 in Krefeld ist offen für Schwarze Frauen und Kinder.
       
       1 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neues-Soloalbum-von-Brittany-Howard/!5992909
   DIR [2] /Verfilmung-von-Fatma-Aydemirs-Romandebuet/!5990329
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frederike Grund
       
       ## TAGS
       
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Schwarze Deutsche
   DIR Väter
   DIR Jamaika
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Der Hausbesuch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Der Hausbesuch: Von null auf hundert
       
       Das Leben von Axel Kaiser ist reich an Wendemanövern: Früher war er
       Autonarr, heute liebt er sein Rad und ist nachhaltiger Unternehmer.
       
   DIR Der Hausbesuch: Ihre Kunst ist unsere Geschichte
       
       Die Künstlerin Varda Getzow trägt transgenerationale Traumata in sich. Ihre
       Werke sind eine stete Auseinandersetzung damit.
       
   DIR Der Hausbesuch: Nicht Mitglied, sondern „Mitklit“
       
       Kassandra Hammel birgt feministische Schätze aus einem lange vergessenen
       Archiv in Freiburg. Dort verbringt die Historikerin mehr Zeit als daheim.
       
   DIR Der Hausbesuch: Er sucht Risse im Spektakel
       
       Der Astrophysiker Christophe Kotanyi kann erklären, was die Situationisten
       der 60er Jahre wollten. Sie saßen bei den Eltern am Küchentisch.
       
   DIR Der Hausbesuch: Sich bloß nicht einfangen lassen
       
       Michael und Mirja Küster wollten ausbrechen aus der Kleinfamilie. Seit 2022
       leben sie in einem Wohnprojekt im Schwarzwald und lernen dazu.