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       # taz.de -- Max Annas Roman „Berlin, Siegesallee“: Attentat bei der Kaiserparade
       
       > In Max Annas Roman rächt eine Terrortruppe die Verbrechen in den
       > deutschen Kolonien. Auf blutige Weise wird Gerechtigkeit gefordert.
       
   IMG Bild: Rückkehr von der Kaiserparade am 24.8.1910 in Rastenberg, Ostpreußen
       
       Wirklich? So war das? Es ist so eine Sache mit historischen Krimis. Nicht
       nur die Fälle müssen stimmig sein, die Zeit, in der sie spielen, sollte so
       korrekt wie möglich gezeichnet werden. So gesehen ist am besten, wenn sich
       die Lesenden am Ende vorstellen können, dass es genau so gewesen sein
       könnte. Wenn sie sich gar die Frage stellen, ob es vielleicht wirklich so
       gewesen ist.
       
       Wie war es also anno 1914 in Berlin für schwarze Menschen? Friedrich Smith,
       der als Bote für einen Schneiderbetrieb regelmäßig durch die ganze Stadt zu
       fahren hat, bekommt täglich den finstersten [1][Alltagsrassismus] zu
       spüren, wenn man ihn wieder einmal nicht mitfahren lässt in der Straßenbahn
       etwa. So schildert es Max Annas in seinem neuen Roman „Berlin,
       Siegesallee“. Das wird schon so gewesen sein, ist ja heute auch nicht
       anders.
       
       Dann ist da noch ein anderer Schwarzer, mit dem der Hausherr eines stolzen
       Anwesens im vornehmen Steglitz so gerne parliert. Nebenan macht ein
       Schwarzer die Gartenarbeit. Den hat sich der Hausherr einst aus Südwest
       mitgebracht, von einer Reise, deren Eindrücke jetzt in ein monumentales
       Gemälde fließen sollen, das zeigen soll, wie Kaiser Wilhelm II.
       höchstpersönlich Afrika untertan macht. Der Herrscher war zwar nie in den
       Kolonien, aber darum geht es dem Maler nicht. Propaganda eben. Wird schon
       so gewesen sein. Ist heute ja auch wieder ein Thema.
       
       ## Faszination Suffragetten
       
       Die drei Männer lernen sich kennen und die Tochter eines angesehenen Hauses
       ebenso. Eine jener höheren Fräuleins, die sich nicht länger mit der Rolle
       abfinden wollten, die die Gesellschaft ihnen zugedacht hatte. Eine, die
       nicht darauf wartet, vom Vater verheiratet zu werden. Eine, die fasziniert
       auf die Taten der Suffragetten in England schaute. Eine, die die Welt
       verändern wollte, und wenn es sein muss, mit Gewalt.
       
       Mit Gewalt? Klar, es ist ein Krimi, nicht nur ein Sittengemälde jener Zeit,
       in der es für viele noch undenkbar war, dass Frauen mal das Wahlrecht
       erhalten.
       
       Das Blut spritzt nur so, auch mal in einer wahren „Springflut“, wie es
       heißt. Mal führt der eine das Messer, mal die andere. Eine irre
       Terrortruppe hat Annas da zusammengestellt. Ein Fanal wollen die drei
       Männer und die Frau setzen, wie sie sagen. Ihre Opfer sind Militärs, die in
       den [2][Kolonien] an genozidalen Verbrechen beteiligt waren.
       
       ## Gerechte Rache?
       
       Wer das liest, soll wohl zum Sympathisanten werden und sich wie die
       Rachemörder wundern, warum die Taten alles andere als Aufmerksamkeit
       erregen. Es gibt schlicht kein Interesse dafür, was die Deutschen in den
       Kolonien treiben. Gerechte Rache?
       
       Und wenn das nicht reicht, muss eben der Kaiser dran glauben. Oje! Das kann
       aber wirklich nicht so gewesen sein. Jetzt übertreibt der Autor aber. Das
       Attentat scheitert letztlich am Alltagsrassismus. Die tapferen Rachetäter
       werden einfach nicht vorgelassen in die erste Reihe bei der Kaiserparade.
       Ha! So wäre es vielleicht gekommen, wenn es wirklich zu einem solchen
       Attentat gekommen ware. Das ist dann doch [3][Krimikunst].
       
       Da wird ein Fall konstruiert, um die Gesellschaft zu beschreiben. Das kommt
       in diesem Fall ohne große Marktschreierei daher und ohne den bisweilen so
       gern genommenen Hinweis, dass die Geschichte auf einem wahren Fall beruhe.
       
       Als Max Annas einst den Fall des in Brandenburg zu Tode gekommenen
       Vertragsarbeiters Manuel Diogo zum Stoff für einen Krimi gemacht hat,
       erzählte er die Geschichte des Mosambikaners als finsteren Nazi-Mord, der
       von der Polizei in der DDR vertuscht worden war.
       
       ## Zu viel Wirklichkeit
       
       Der gute antirassistische Wille war jeder Zeile anzumerken. Heute ist
       bekannt, dass Diogo bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Wirklich. So
       war das. Annas’ „Morduntersuchungskommission“ war am Ende dann kein Krimi,
       auch weil er zu viel Wirklichkeit wollte.
       
       Bei „Berlin, Siegesallee“ ist das anders. Die Geschichte ist stimmig,
       antirassistisch und so blutig, wie ein gut ausgedachter Krimi ruhig sein
       darf.
       
       8 Feb 2024
       
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