# taz.de -- Hintergründiges Buch zur AfD: Die wirkliche Gefahr
> Hendrik Cremer reagiert auf das gewachsene rechte Selbstbewusstsein.
> Seine Studie liefert trotz mancher Schwächen Argumente für ein Verbot der
> AfD.
IMG Bild: Die AfD ist rechtsextrem wie nie zuvor: Anti-Höcke-Plakat bei der Demonstration in Berlin am 12. Januar
Der Parteitag der Alternative für Deutschland in Essen im Sommer 2015 gilt
als ein früher Wegstein der Radikalisierung der Partei nach rechts. Damals
setzte sich Frauke Petry gegen den liberalkonservativen Gründer Bernd Lucke
durch, der die AfD in der Folge verließ.
Am Rande des Parteitags ereignete sich auch eine Szene, an die sich
Partei-Aussteiger:innen in der sehenswerten WDR-Doku „Wir waren in der AfD“
erinnern: Nachdem der Thüringer Fraktionsvorsitzende Björn Höcke zur Wahl
in den Vorstand vorgeschlagen wurde, sei dieser ans Mikrofon getreten und
habe mit ruhiger Stimme gesagt: „Noch nicht“. Seine Anhänger klatschten und
grölten.
Fast neun Jahre später ist Höckes völkischer „Flügel“ zwar offiziell
aufgelöst, aber die Partei so rechtsextrem wie nie zuvor. Unlängst nahmen
AfDler an einem [1][Treffen mit Identitären in Potsdam] teil, wo sie heiter
ihre Pläne für Massendeportationen diskutierten. Dabei waren die Vorschläge
kaum neu. Schon 2018 sprach Höcke in einem Buch von der Notwendigkeit eines
[2][„großangelegten Remigrationsprojekts“], das eine Politik der
„wohltemperierten Grausamkeit“ erfordere.
Im selben Jahr konstatierte der stellvertretende Parteivorsitzende in
Sachsen-Anhalt, Hans-Thomas Tillschneider: „Die AfD will das Gleiche wie
die Identitäre Bewegung, inhaltlich gibt es keinen Dissens.“ Gewachsen ist
allerdings das Selbstbewusstsein, mit dem die Rechte in Deutschland über
ihre Vorhaben spricht. Die Gesellschaft spricht ihrerseits deswegen über
ein Parteiverbot.
Argumente für ein solches Verbot liefert ein neues Buch von Hendrik Cremer,
der im Deutschen Institut für Menschenrechte zu Rassismus und
Rechtsextremismus forscht. „Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden
wir brauchen“ – erschienen im Berlin Verlag – sammelt Beweise aus
Wahlprogrammen, Recherchen und öffentlichen Reden, die zeigen, welche
völkischen und verfassungsfeindlichen Ziele die Partei heute verfolgt. Und
wie es ihr gelingt, diese in der öffentlichen Debatte zu streuen, sei es in
Talkshows oder in weichgespülten Sommerinterviews.
## demos versus ethnos
In seiner Analyse verweist Cremer auf die völkische Ideologie des
AfD-Programms, die der Verfassung zuwiderläuft. Im Grunde richtetet sich
die Partei gegen die liberale Idee von Staatsbürgerschaft, nach der jeder
und jede durch Einbürgerung potenziell Teil des demos werden kann. Dem
entgegen stellt die AfD das Volk als schicksalhafte Kulturnation oder
ethnos.
Auch der [3][linke Philosoph Gáspár Tamás] sah diese Rebellion gegen die
liberale Staatsbürgerschaft als zentrales Merkmal des Faschismus. Tamás
prägte Anfang der 2000er Jahre in einem Essay den Begriff „Postfaschismus“
für die heutigen Neurechten, die zwar vom selben völkischen Ressentiment
getrieben sind, sich dabei aber höchstens lose auf ihre Vorgänger aus den
1930ern beziehen.
Cremer unterscheidet dagegen nicht tiefgreifender zwischen den Nazis von
damals und den heutigen Postfaschisten. Wenn er Björn Höcke vorwirft, einen
„neuen Nationalsozialismus“ und eine „Gewaltherrschaft“ anzustreben,
übersieht er, dass die gesellschaftlichen Bedingungen heute andere sind.
Eben darum bemerkte Tamás, der Postfaschismus müsse als eigenes, neues
Phänomen begriffen werden.
Anders als in den 1930er Jahren gibt es heute keine bewegten Massen, keine
Straßenschlachten zwischen bewaffneten Kampfverbänden, und wohl am
wichtigsten: keine echte sozialistische oder kommunistische Alternative,
die das Bürgertum einst in die Hände der Nazis trieb.
## Wohlüberlegte Ausrutscher
Auch der Postfaschismus einer Giorgia Meloni in Italien ist nicht einfach
eine Neuauflage des Mussolini-Faschismus, denn sie bricht nicht radikal mit
dem bestehenden System. In ihrer Hybridität birgt ihre Regierung jedoch
eine ganz eigene Bedrohung. Analogien zu 1933 und dergleichen eignen sich
vielleicht für Demoplakate. Doch können sie auch den Blick auf die
wirkliche Gefahr verstellen: dass Rechte, sollten sie an die Macht kommen,
nicht Revolution machen, sondern sich länger in der bestehenden Ordnung
bewegen, um diese langsam von innen auszuhöhlen.
Der Autor geht in kurzen Abschnitten auch auf die Russlandnähe der AfD ein
oder auf ihre Kontakte ins neurechte intellektuelle Spektrum, etwa zum
Institut für Staatspolitik um Götz Kubitschek. Diese kurzen Streifzüge sind
jedoch inhaltlich nicht sehr ergiebig. Wer eine politische Tiefenanalyse
der Partei erwartet, wird von dem Buch also eher enttäuscht sein.
Stattdessen dient es als Kompendium der Menschenverachtung und als Aufruf,
die AfD in ihren antiliberalen Bestrebungen ernst zu nehmen.
Aufmerksamen Beobachter:innen dürften einige der angeführten Belege –
völkische Parolen und wohlüberlegte „Ausrutscher“ – bekannt sein. Wer sich
aber auf gut 200 Seiten noch mal auf Stand bringen möchte, welche Ziele die
AfD heute verfolgt, ist mit dem Buch bestens bedient.
11 Feb 2024
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## AUTOREN
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