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       # taz.de -- Bordellgasse in Minden: Rotlicht am Ende
       
       > Das Rampenloch im westfälischen Minden war lange eine Bordellgasse und
       > galt schon im Mittelalter als verruchter Ort. Nun rollen die Bagger an.
       
   IMG Bild: Unscheinbarer Sündenpfuhl: das Rampenloch in Minden
       
       Hamburg taz | Natürlich kennen in Minden alle das Rampenloch. Jedenfalls
       solange es noch nicht abgerissen ist, sagt Eduard Schynol. „Auch wenn kein
       Mann jemals zugegeben hat, hier gewesen zu sein“, schiebt er grinsend nach.
       Denn „Rampenloch„ist nicht nur der etwas ungewöhnliche Name jener schmalen
       und gerade mal 50 Meter langen Straße im oberen Teil der Altstadt.
       
       „Man versteht das hier in der Region einfach als Synonym für einen Puff“,
       sagt der 72-Jährige und biegt in die Sackgasse mit ihrem Kopfsteinpflaster
       aus dem vorletzten Jahrhundert ein. Am Ende der Gasse sorgt links eine fünf
       Meter hohe Backsteinmauer für Beklemmung, rechts stehen eng aneinander die
       verrotteten kleinen Fachwerkhäuser, die seit dem vorletzten Jahrhundert
       ausschließlich als Bordelle genutzt wurden.
       
       „Ehrlich gesagt hat mich die Debatte, was hiermit geschehen soll, ziemlich
       kalt gelassen“, sagt Schynol achselzuckend und schiebt sich mit einem
       Rucksack auf dem Rücken durch den Spalt zwischen der verdreckten
       Fachwerkfassade mit den zerborstenen Fensterscheiben und dem
       Bauschuttcontainer, der seit einigen Tagen daneben auf der kleinen
       Pflastersteinstraße steht.
       
       Schon in den nächsten Tagen sollen hier dann auch die Bagger anrollen und
       die Häuser abreißen, um Platz für „Familien, Singles und Senioren“ zu
       machen. Damit verschwindet ein schmuddeliger, aber auch [1][ziemlich
       einzigartiger Geschichtsort.]
       
       ## Früher eine Hinrichrichtungsstätte
       
       Dass ihn das Verschwinden dieses Ortes aber wirklich völlig kalt lässt, ist
       dem früheren Lehrer Schynol kaum zu glauben. Dafür viel zu lebhaft und mit
       zahlreichen Anekdoten angefüttert schildert er die Geschichte der Straße
       bei diesem – seinem letzten – Spaziergang vor dem Abriss. „Den Erzählungen
       nach war das hier schon immer ein ziemlich verruchter Ort“, sagt er.
       
       Direkt hinter der hohen Mauer steht noch das alte Gefängnis der Stadt aus
       dem 19. Jahrhundert. Aus dem 12. Jahrhundert stamme eine Quelle, die das
       Mindener Rampenloch als Hinrichtungsstätte für Mütter nennt, die ihre
       Kinder getötet hatten. Sie sollen hier lebendig begraben worden sein.
       „Daher auch der Name“, sagt Schynol. Ramp bedeute so viel wie Unglück, die
       örtliche Unglücksgrube war das hier also.
       
       „Und die Stadt war über Jahrhunderte eine Soldatenstadt“, sagt Schynol. Im
       30-jährigen Krieg waren die Schweden hier, später bauten die Preußen die
       Stadt an der Weser zur Garnison aus, zwischendurch war Minden Teil des
       französischen Königreichs Westphalen. Bis in die 1990er war die Stadt
       Standort der britischen Besatzungstruppen von der Rheinarmee. „Den Militärs
       war klar: Es musste ein Ventil geschaffen werden“, sagt Schynol. Sexarbeit
       gab es auch zuvor, unkoordiniert und deshalb als „Winkelhurerei“
       bezeichnet.
       
       Dass aber gleich ein ganzer Straßenzug dieser Bestimmung zugeordnet wurde,
       ist ein seltener Fall. In seinem Rucksack hat Schynol einen dicken
       Aktenordner. Darin befindet sich auch die Kopie eines 201 Jahre alten
       Schreibens des Preußischen Ministers für Inneres und Polizei.
       
       ## Pragmatische Preußen
       
       Der Bitte der örtlichen Mindener Militärs, [2][ein Soldatenbordell zu
       errichten, wird darin stattgegeben.] Die Notwendigkeit, die Prostitution in
       einer Garnisonsstadt zu regeln, schien angesichts von sich ausbreitenden
       Geschlechtskrankheiten groß. „Durch die Legalisierung konnten
       Hygienekontrollen stattfinden“, sagt Schynol. Und diese pragmatische Idee
       funktionierte. „So war dann in der Folge auch das Rampenloch ein in der
       Stadt akzeptierter Ort“, sagt Schynol.
       
       Schynol steht vor dem vordersten Haus. Zwei Eingänge, die fast direkt an
       den Bordstein ragen, sind mit Brettern verrammelt. Er zeigt auf die rechte
       Tür. „Hier arbeitete die letzte Frau des Rampenlochs“, sagt Schynol. 2018
       hörte auch sie auf, aber schon seit den 90er Jahren hatte die
       Wirtschaftlichkeit der Sexarbeit nachgelassen. Für die Stadt war das der
       Moment, eine Entscheidung über die Zukunft des Areals zu treffen.
       
       Auch wenn das Rampenloch als Schmuddelecke gilt – in die untere Altstadt
       mit ihrem Dom, dem historischen Marktplatz und der Einkaufsstraße, die zur
       Weser führt, sind es drei, vier Minuten zu Fuß. Durch den Neubau von
       Wohnungen für Gutverdienende will die Stadt die Ecke aufwerten. Auch im
       nächstgelegenen Häuserblock sind bereits Kräne und herumlaufende
       Bauarbeiter auf einer Großbaustelle zu sehen.
       
       „Manche haben Wehmut, andere nicht“, sagt Schynol. Drei oder vier Jahre
       lang wurde in der Stadt über die Zukunft der Gasse gestritten. Ein
       einzigartiges Kleinod mit jahrhundertelanger besonderer Geschichte einfach
       so abzureißen, statt es als Denkmal zu erhalten oder zum Museum
       umzugestalten, sorgte auf der einen Seite für Entrüstung.
       
       Wäre im Hinblick auf Mindens frühere „führende Position in Sachen
       Seuchenbekämpfung“, wie es in einem lokalen Meinungsbeitrag hieß, es nicht
       eine wunderbare Chance gewesen, der ansonsten weitgehend unbeachteten Stadt
       [3][ein besonderes Image zu verpassen, das auch touristisch anlockt?] „Das
       stimmt natürlich alles“, sagt Schynol. „Aber es stimmt auch: Das wäre
       sicher nicht wirtschaftlich gewesen.“ Minden, im ansonsten prosperierenden
       Ostwestfalen, ist eine ziemlich arme Stadt.
       
       ## Bordellgasse als Freilufttheater
       
       Dass Wehmut entstehen könnte, liegt aber nicht zuletzt an Schynols eigener
       Arbeit: Er hatte den Ort im vergangenen Vierteljahrhundert mit kultureller
       Bedeutung aufgeladen. Während er vor der rechten Tür des vordersten kleinen
       Hauses stehen bleibt, muss er plötzlich erneut grinsen. „Hier direkt hinter
       der Wand war der Arbeitsbereich der Dame, und dahinter gab es noch ein
       kleines Zimmer, in dem sie rauchte und Fernsehen schaute“, sagt er. Und
       dort hinten habe er mal gesessen. „Da habe ich die Verhandlungen mit dem
       Stadtmarketing und einem Sponsor für unser Theaterstück geführt.“
       
       2008 verwandelte Schynol das Rampenloch in ein Freilufttheater. Mitte der
       90er hatte er [4][die Tucholsky-Bühne an seiner damaligen Schule gegründet,
       anfangs als Ensemble aus Lehrerinnen und Lehrern.] Heute ist es ein
       wichtiger Akteur der lokalen Kulturszene, als Verein mit 500 Mitgliedern
       organisiert. Am Ende der Sackgasse stand damals die Bühne, bis vorne zur
       Einfahrt saß das Publikum an mehreren Sommerwochenenden auf dem
       Kopfsteinpflaster, um sich [5][das Theaterstück über Mindens
       Stadtgeschichte anzusehen.]
       
       Die Geschichte siedelte Schynol als Autor des Stücks natürlich in einem
       Bordell hier im Rampenloch an. Es war übrigens eine Wiederaufnahme,
       ursprünglich hatte Schynol das Stück bereits zehn Jahre zuvor für das
       1.200. Stadtjubiläum geschrieben. In seinem Aktenordner hat er Dutzende
       auch überregionale Pressetexte gesammelt, die vom Erfolg des Stücks in den
       beiden Jahren berichten.
       
       Ihn packe trotzdem keine Wehmut, sagt Schynol erneut, als er sich wieder am
       Bauschuttcontainer vorbeizwängt. Er klingt zwar überzeugend, doch noch
       immer will man es ihm nicht so richtig glauben. Erst zuvor war er vor der
       Tür eines der mittleren, besonders niedlichen, aber maroden Häuser stehen
       geblieben. „In Wahrheit war das hier gar kein Rotlichtviertel“, sagt er und
       zeigt grinsend auf eine alte Lampe, die hier wie vergessen hängt – mit
       einer gelben Glühbirne darin. Die seien in der ganzen Straße gelb gewesen –
       noch so eine historische Besonderheit.
       
       Mit den Baggern, die in wenigen Tagen schon anrollen dürften, ist die
       Farbfrage aber nun wohl auch egal. Und Sexarbeit werde es in der
       80.000-Einwohner-Stadt bestimmt noch anderswo geben. Wer weiß. „Vielleicht
       geht’s ja jetzt einfach wieder zurück zur Winkelhurerei“, sagt Schynol.
       
       12 Feb 2024
       
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