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       # taz.de -- Zukunft des Lübecker Buddenbrookhauses: Wer bestimmt, was Identität bildet?
       
       > Der Streit über den Ausbau des Buddenbrookhauses scheint beigelegt. Offen
       > aber ist weiter die Frage, wofür das neue Museum stehen wird.
       
   IMG Bild: Seit dem Zweiten Weltkrieg entkernt: das Lübecker Buddenbrookhaus im Jahr 1942
       
       Auch wer – jedenfalls wenn aus dem deutschsprachigen Europa stammend –
       noch nie in Lübeck war, erkennt „das“ [1][Buddenbrookhaus]: Mengstraße 4,
       direkt gegenüber der monumentalen Marienkirche, steht die weiß gestrichene
       Barockfassade mit dem geschwungenen Giebel, der hohen Eingangstür, der
       noblen Reihe breiter Bodenfenster. Thomas Mann beschrieb sie in seinem 1901
       erschienenen Roman als Brücke zwischen dem intim-bürgerlichen Familienleben
       und der harten Außenwelt.
       
       Ein Haus, das schon in den 1920ern zu einer Hauptsehenswürdigkeit der Stadt
       geworden war, 1922 eröffnete hier die Buddenbrook-Buchhandlung. Als 1929
       der Autor und das Buch mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, war der
       Ruhm der fiktiven Familie Buddenbrook etabliert. Sogar die Nazis scheitern
       mit ihrem Versuch, das Haus zum „Wullenweberhaus“ umzutaufen.
       
       Dennoch überstürzte sich Lübeck nicht mit der Mann-Ehrung: Der Roman galt
       lange als Nestbeschmutzung, Mann als Kollaborateur, weil er 1942 die
       Zerstörung von Lübecks geliebter Altstadt, „meiner Vaterstadt“,
       legitimierte als Antwort auf den deutschen Krieg gegen die Welt. Erst 1993
       entstand hinter der berühmten Barockfassade ein Museum, das an den großen
       Mann-Clan und an [2][Erich Mühsam] erinnert.
       
       Und seitdem erlebte man nach dem Eintritt durch das hohe Tor immer wieder
       die Ernüchterung: Das berühmte, großzügige Kaufmannshaus gibt es gar nicht
       mehr, auch nicht die freundliche Wohnetage. Sie wurden 1942 im Bombenkrieg
       weitgehend zerstört. Das, was heute steht, ist ein Wiederaufbau der frühen
       1950er-Jahre: Hinter der barocken Fassade, in den alten Brandwänden und
       über den barocken Kellern steht ein ziemlich knickriges Bankgebäude, mit
       vier statt der außen sichtbaren drei Etagen, engen Treppen, niedrigen
       Räumen mit absurd bodentiefen Fenstern.
       
       ## radikal neu errichten
       
       Um aus dieser Enge auszubrechen, soll das Buddenbrookhaus zusammen mit dem
       Nachbarhaus Mengstraße 6 zum „Neuen Buddenbrookhaus“ werden. 2017 gab es
       einen internationalen Wettbewerb, gewonnen von dem Lübecker Büro THM
       Architekten (Többen und Mueller-Haagen, in Zusammenarbeit mit Jörn
       Simonsen). Ihr Projekt: Beide Häuser sollen bis auf die Fassaden, die
       Keller und die Brandwände noch einmal radikal neu errichtet werden.
       
       Damit können im Buddenbrookhaus wieder die historischen Raumhöhen erreicht
       werden, eine große Diele, das legendäre Treppenhaus und Fenster mit
       gemütlicher Brüstung neu entstehen. Allerdings: Ein Geschoss entfällt. Der
       nötige Raum für die bedeutende Forschungsbibliothek und das Archiv sowie
       ein Veranstaltungssaal entstehen vor allem im Nachbargebäude Mengstraße 6.
       
       Auch hier gilt: Wenn man das Projekt Wiedergewinnung des Buddenbrookhauses
       ernst nimmt, geht das offenbar nur unter Opferung des Baubestands und der
       in ihm gespeicherten „Grauen“ Energie.
       
       Schon vor vier Jahren zog das Museum aus. Aber seit einem Jahr stoppen alle
       Bauarbeiten. Erst vergangene Woche wurde, möglicherweise, so hofft die für
       das Projekt im Museum zuständige Caren Heuer im Gespräch mit der taz, eine
       Lösung für die zentrale Treppenfrage gefunden: Wie kann das Haus Mengstraße
       6 auf allen Ebenen genutzt werden, ohne dabei die auf 1237 datierten
       Kellergewölbe in diesem Bau zu beschädigen, die schon im Wiederaufbau der
       1950er gelitten haben? Nun soll ein schmales, außen angebautes Treppenhaus
       die Geschosse und Häuser miteinander verbinden.
       
       ## Keine „Lokalposse“
       
       Man spürt beim Telefonieren in Lübeck die Erschöpfung an der Treppenfrage.
       Aber sie ist keineswegs, wie überregional geschrieben wurde, eine
       „Lokalposse“. Hier geht es auch nicht nur um die möglicherweise ältesten
       erhaltenen Keller eines Bürgerhauses aus der Gründungszeit und dem
       Kernbereich der Hansestadt, sondern um eine Frage des traditionellen
       Selbstbilds von Lübeck als der mittelalterlich geprägten Hansemetropole.
       Deswegen lehnte die Untere Denkmalschutzbehörde den ursprünglich geplanten
       Eingriff auch immer ab.
       
       Dennoch hat Bürgermeister Jan Lindenau als Oberster Denkmalpfleger Lübecks
       in seiner „Abwägung“ öffentlicher Interessen 2023 den Neubau genehmigt.
       Seit Monaten wird er dafür unter anderem von der „Bürgerinitiative Rettet
       Lübeck“ scharf kritisiert. Sie hat viel Einfluss, seit ihrer Gründung im
       Europäischen Denkmalschutzjahr 1975 so manches Projekt des Autowahns
       gestoppt und viele Häuser vor Verfall und Untergang gerettet.
       
       Sogar im jüngsten Kommunalwahlkampf spielte die Frage eine erhebliche
       Rolle. Inzwischen hat die Bürgerschaft viermal gegen den Abbruch der
       Gewölbe in der Mengstraße 6 gestimmt – obwohl damit die Zuschüsse des
       Landes von über 19 Millionen Euro zu dem auf 33 Millionen Euro kalkulierten
       Projekt gefährdet wurden.
       
       ## Einzigartige Architekturcharade
       
       Für das traditionelle Lübecker Selbstbild sind die um 1237 entstandenen
       Kellergewölbe der Mengstraße 6 nämlich durchaus konkurrenzfähig mit der
       Erinnerung an das Wirken Thomas Manns. Dokumentieren sie doch, wie schnell
       die Stadt nach ihrer Gründung 1158 durch Heinrich den Löwen zu Macht und
       Reichtum kam.
       
       Ein Selbstbild, das nach dem Zweiten Weltkrieg genau auf diesem Grundstück
       zu einer selbst in der bewegten Lübecker Denkmalpflegegeschichte wohl
       einzigartigen Architekturcharade führte: Die Ziegel seiner
       Treppengiebelfassade stammen nämlich eigentlich von einem Haus in der
       Fischstraße 19 im „Gründungsviertel“. Das aber wurde im Zug des dort rabiat
       modernistischen Wiederaufbaus der Nachkriegszeit abgebrochen, nur die
       Fassade gerettet und direkt neben dem Buddenbrookhaus „gotisch“ wieder
       aufgebaut.
       
       Dieses Projekt war den Lübeckern so wichtig, dass dafür das durchaus
       wiederaufbaufähige Haus Mengstraße 6 abgerissen wurde.
       
       ## Rückversetzung der Fassade?
       
       Die Geschichte der Treppengiebelfassade hält noch eine weitere Volte
       bereit: Als vor einigen Jahren die Neubebauung des modernistischen
       „Gründerviertels“ westlich der Marienkirche geplant wurde, kam tatsächlich
       die Rückversetzung der Fassade an die neue Fischstraße 19 ins Gespräch. Sie
       sollte dort dem neuen Einzelhausviertel eine „lübisch“-bürgerliche
       Verankerung geben.
       
       Zwar wurde das Projekt von den Denkmalpflegern sofort abgelehnt. Doch
       entstand in dem neuen Gründerviertel immerhin eine abstrahierte Version des
       Giebels. Weiter ist also der Bezug zum Mittelalter innerlübischer Marker
       für „goldene Zeit“.
       
       Das heutige Bild eines barocken Buddenbrookhauses, das wie ein Fremdkörper
       zwischen gotischen Fassaden steht, ist also eine Erfindung der
       Nachkriegszeit – und hatte eine hochpolitische Bedeutung. Der Barock
       nämlich, der bis zum Zweiten Weltkrieg das Straßenbild prägte, galt schon
       um 1900 als Teil eines angeblichen kulturellen und sittlichen „Verfalls“
       des bürgerlichen Deutschlands.
       
       ## Opferbereitschaft in der Nachkriegszeit
       
       Auch Thomas Mann spielt mit dieser Sub-Bedeutung von „Barock“ und „Rokoko“
       in seinem Roman über den „Verfall einer Familie“. Dem gegenüber gestellt
       wurde die heroisierte Zeit der mittelalterlichen Hanse, als Lübeck den
       Handel bis nach Russland und in die Ukraine beherrschte.
       
       Eine Sicht, die in der Nachkriegszeit weit verbreitet war: Der dekadente
       „Verfall“ des Bürgertums galt nun als Grund für das Versagen vor der
       Herausforderung durch die Nazis, legitimierte einerseits den
       radikal-modernistischen „Neuanfang“ wie im Gründerviertel – und
       andererseits die unkritische Idealisierung des Mittelalters. Für diese
       Botschaft opferte man in den 1950ern gleich zwei wiederaufbaufähige Häuser.
       
       Inzwischen hat sich die Perspektive allerdings gedreht: Gerade der
       Modernist Thomas Mann gilt wenigstens der Stadtverwaltung, der Leitung der
       städtischen Museen und vielen Lübecker und auswärtigen Mann-Freunden als
       Zentrum eines neuen Lübeck-Selbstbilds. Nicht zuletzt aus wirtschaftlichen
       Gründen: Das Buddenbrookhaus hatte zuletzt 250.000 Besuche im Jahr, davon
       weit über 90 Prozent von Nicht-Lübeckern. Die lassen viel Geld in der
       Stadt.
       
       Entsprechend stellte schon die Ausschreibung des Architekturwettbewerbs den
       Erhalt aller Gewölbe in der Mengstraße 6 anheim. Auch die Jury wählte nur
       Preisträger, die durchweg wenig Rücksicht auf den Baubestand nehmen. Erst
       die Bürgerproteste haben dazu geführt, dass nun die unterschiedlichen
       Lübeck-Identitäten vielleicht zusammen kommen können. Wenn, ja wenn … das
       Land Schleswig-Holstein bei seiner Förderzusage bleibt, obwohl das
       Architekturkonzept in einem Detail geändert wurde. Die Verhandlungen
       laufen.
       
       11 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Buddenbrook-Museum-in-Luebeck/!5895165
   DIR [2] /Museen-und-riskante-Provenienz-von-Kunst/!5962823
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nikolaus Bernau
       
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