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       # taz.de -- Die Mullahs und der Gazakrieg: Wie Irans Regime ablenken will
       
       > Die aggressive Außenpolitik der Islamischen Republik ist ohne die
       > Innenansicht nicht zu erklären. Armut und Repressionen machen den
       > Menschen zu schaffen.
       
   IMG Bild: Protest wird im Iran brutal unterdrückt. „Hinrichtungen stoppen“ fordern iranische Aktivisten in Berlin am 27.01.2024
       
       „Jahrelang habe ich jeden Tag gearbeitet, an manchen Tagen zwölf, 13
       Stunden“, sagt Maryam Ahadi am Telefon. Und trotzdem ist sie jetzt, mit 32
       Jahren, arbeitslos und hat kaum noch Geld für Essen, Kleidung oder Benzin.
       Denn Sparen ist im Iran illusorisch. Maryam Ahadi hat promoviert und
       arbeitete an der Universität in Teheran, bis sie wegen ihrer Unterstützung
       der Protestbewegung gekündigt wurde. Weil sie [1][weitere Repressionen]
       fürchtet, wurde ihr Name hier geändert.
       
       Wirtschaftlich geht es den meisten Menschen im Iran wie Ahadi: extrem
       schlecht. Hohe Preise und Arbeitslosigkeit machen einem großen Teil der
       Bevölkerung ein normales Leben schier unmöglich. Dazu kommt die politische
       Lage. Als im September 2022 [2][nach dem Tod von Jina Mahsa Amini] Tausende
       von Menschen auf den Straßen protestierten und Frauen ihr Kopftuch
       abnahmen, war Ahadi eine von ihnen. „Frau, Leben, Freiheit“ – das war ihr
       Ruf. Und es war der Beginn einer staatlichen Repressionswelle, die bis
       heute anhält.
       
       2023 wurden laut der Menschenrechtsorganisation Abdorrahman Boroumand
       Center (ABC) 806 Menschen hingerichtet. Die Islamische Republik Iran war
       schon vor 2023 neben China das Land mit der höchsten Anzahl an
       Hinrichtungen weltweit, gemessen an der Bevölkerung. Mehr als 800
       Hinrichtungen sind aber selbst für das iranische Regime eine grausam hohe
       Zahl. Massenhinrichtungen haben in der Islamischen Republik System: Von
       Beginn waren sie ein Mittel der Macht.
       
       „Das ist nicht das erste Mal, dass die Zahl der Hinrichtungen steigt“,
       erklärt Roya Boroumand, Mitgründerin und Vorständin des ABC. In den 1980er
       Jahren seien Tausende von Menschen hingerichtet worden, zur Konsolidierung
       des Staats. Auch in der Folge der großen Proteste nach den gefälschten
       Präsidentschaftswahlen im Jahr 2009 habe es einen „starken Anstieg an
       Hinrichtungen“ gegeben, sagt Boroumand. „Willkürliche und
       Massenhinrichtungen waren und sind immer noch ein Mittel, um Oppositionelle
       zum Schweigen zu bringen und Angst in der Gesellschaft zu verbreiten“,
       erklärt die Menschenrechtlerin.
       
       ## Kopftuch? Nur noch im Auto
       
       Auch für Nava Shirazi (Name geändert, Anm.d.Red.) ist klar, warum das
       Regime so viele Menschen hinrichtet: „Sie wollen uns Angst machen.“ Die
       37-jährige Lehrerin trägt wie viele andere Frauen im Iran seit den
       Protesten kein Kopftuch mehr, wenn sie draußen unterwegs ist. So groß die
       Angst auch ist, diese Freiheit wird sie sich nicht mehr nehmen lassen. Sie
       wurde mehrmals verhaftet und verhört. Auch ihr Auto wurde schon mal
       einkassiert.
       
       Im Auto setzen die meisten Frauen das Kopftuch auf, erzählen Shirazi und
       Ahadi. Weil es fast unmöglich ist, den teuren Geldstrafen zu entgehen. Das
       Auto wird den Frauen dann oft weggenommen. Über das Kennzeichen kann die
       „Straftat“ schnell geahndet werden. Sobald sie das Fahrzeug verlässt,
       erzählt Nava Shirazi, nimmt sie das Kopftuch sofort wieder ab. Das ist ihre
       Art des Protestes. Die Straßenproteste aber, sagt sie mit hörbarer Trauer
       in der Stimme, seien vorbei.
       
       Mehr als 500 Menschen wurden bei der Niederschlagung von Protesten getötet;
       viele von ihnen Kinder und Jugendliche. Die Macht des Regimes hat seit der
       Islamischen Revolution im Jahr 1979 nie so gewackelt wie in der Zeit der
       landesweiten Proteste im Jahr 2022. Trotz der vielen Ermordeten gaben die
       Protestierenden monatelang nicht auf.
       
       Also erdachte das Regime sich andere Methoden, um die Menschen zum
       Schweigen zu bringen. Die bewaffneten Kräfte wurden angewiesen, Menschen
       direkt in die Augen zu schießen. Hunderte von Menschen verloren so ihr
       Augenlicht. Frauen wurde gezielt in die Genitalien geschossen. Erste
       Hinrichtungen von Protestierenden folgten; die täglichen Proteste endeten
       schließlich.
       
       ## Kriegspropaganda für den Machterhalt
       
       Drei Monate lang hatte die Wut auf das Regime die friedlichen
       Demonstrationen getragen. Drei Monate, in denen die obersten Führer des
       Landes zum ersten Mal spürten, dass ihre Macht endlich sein könnte. Die
       Auswirkungen dieser existenziellen Angst der Herrschenden spürt nun die
       ganze Welt. Denn der aggressive außenpolitische Kurs des Regimes ist ohne
       die innenpolitischen Entwicklungen nicht zu verstehen und nicht zu
       erklären.
       
       „Seit dem 7. Oktober findet nichts mehr, das im Land geschieht,
       Aufmerksamkeit“, sagt Nava Shirazi. Als Beispiel nennt sie Armita Garavand.
       Das 16-jährige Mädchen wurde Anfang Oktober 2023 in einer Teheraner U-Bahn
       von sogenannten Sittenwächter:innen derart stark geschlagen, dass sie
       ins Koma fiel; die junge Frau hatte kein Kopftuch getragen. Zunächst wurde
       international berichtet – der Fall erinnerte an den Tod von Jina Mahsa
       Amini, der die Proteste erst ausgelöst hatte. Als Armita Garavand Ende
       Oktober verstarb, kriegte die Welt das kaum noch mit.
       
       Nun ist überall die Rede von der „Achse des Widerstands“, der vermeintlich
       letzten Bastion gegen Israel und die USA im Nahen Osten, angeführt von der
       Islamischen Republik. Die iranischen Führer inszenieren sich seit dem 7.
       Oktober noch offensiver als zuvor als „Retter“ des palästinensischen
       Volkes, auch wenn ihnen dessen Schicksal herzlich egal ist – die
       Palästinenser:innen sind für das iranische Regime nicht mehr als
       Propagandainstrumente für ihren Machterhalt. Innerhalb des Landes starteten
       die Machthaber eine aggressive Kriegspropaganda – die eigenen Reihen, die
       während der Proteste einzelne Lücken aufzeigten, sollten geschlossen
       werden.
       
       Die iranische Führung verkauft sich seinen Gefolgsleuten als die Anführerin
       für die „muslimische Sache“ weltweit. Das Zündeln des iranischen Regimes in
       der gesamten Region ist ein großes Ablenkungsmanöver von der wachsenden
       Repression und der immensen Wut der Menschen im Land. Der massive Anstieg
       an Hinrichtungen geschieht im Windschatten der außenpolitischen Aktivitäten
       des Regimes.
       
       ## Die Machthaber brechen ihre eigenen Regeln
       
       Die innenpolitische Situation ist verheerend: Der Verfall der Währung,
       Arbeitslosigkeit und Armut, Streiks und Proteste von Arbeiter:innen
       wegen fehlender oder verspäteter Lohnauszahlungen, steigende Preise – und
       die Wut der Bevölkerung darüber, dass das Regime Millionen an Dollar in die
       Bewaffnung von Hisbollah, Hamas und anderen Gruppen steckt, während die
       eigene Bevölkerung sich nicht einmal mehr Brot leisten kann.
       
       Auch dahinter steckt Kalkül, meint die 32-jährige Maryam Ahadi. „Der
       wirtschaftliche Druck auf den Menschen ist enorm. Wir sind kaum noch in der
       Lage, uns mit etwas anderem zu beschäftigen.“ Es scheint eine Art
       Ermüdungstaktik des Regimes zu sein – den Menschen Kräfte zu rauben und
       gleichzeitig durch die staatliche Gewalt jeglichen Widerstand auszumerzen.
       
       Dafür spricht zudem, dass die Machthaber ihre eigenen Regeln brechen, die
       sie für den Schein stets vorgeben zu halten, erklärt Mina Khani, Sprecherin
       der Menschenrechtsorganisation Hengaw. Ende Januar wurden die vier
       kurdischen politischen Gefangenen hingerichtet. „Sie waren 19 Monate lang
       verschwunden“, so Mina Khani. „Auf einmal kam die Meldung über ihre
       Hinrichtung, ohne dass ihre Todesurteile überhaupt verkündet wurden.“
       
       Die vier Männer hätten mit dem Mossad „kollaboriert“, so der Staat. Eine
       offensichtliche Lüge, die als Kriegspropaganda verstanden werden kann – und
       in ihrer Willkür die Menschen zermürben soll.
       
       ## Die Verbrechen dürften nicht vergessen werden
       
       „Die internationale Gemeinschaft muss das iranische Regime zur
       Verantwortung ziehen“, ist die Menschenrechtsaktivistin Roya Boroumand
       überzeugt. Die Hinrichtungen hätten zu keinerlei Konsequenzen geführt, die
       das Regime abschrecken würden. „Die internationale Gemeinschaft muss ihre
       Strategie überdenken, um der iranischen Führung zeigen, dass ihre
       Tötungsorgien nicht toleriert werden.“ Der iranischen Führung müsse
       außerdem klar gemacht werden, dass ihre Verbrechen nicht vergessen werden,
       sagt Boroumand.
       
       Viele ihrer Freund:innen hätten den Iran im vergangenen Jahr verlassen,
       erzählt die 37-jährige Lehrerin Nava Shirazi. Zwar kämpfen sie und ihre
       Freundinnen auf ihre Art weiter. Während der Protestbewegung hätte die
       ganze Welt auf sie geschaut. „Diese Unterstützung hat mein Herz erwärmt.
       Wer hätte gedacht, dass Menschen auf der ganzen Welt Zan, Zendegi, Azadi
       rufen?“, sagt sie lachend.
       
       Aber nun fühlt sie sich im Stich gelassen. „Ich will auch nicht im Iran
       bleiben“, sagt Nava Shirazi nach einer kurzen Pause. Sie weint. „Aber es
       gibt für mich kein anderes Zuhause. Meine Heimat wird immer der Iran sein.“
       
       10 Feb 2024
       
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   DIR Gilda Sahebi
       
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