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       # taz.de -- „La Storia“ als TV-Serie: Elsa Morante ist zurück
       
       > Seit auf Rai eine Adaption von Elsa Morantes „La Storia“ läuft, ist der
       > Roman wieder auf den Bestsellerlisten. Er passt erschreckend gut in die
       > Zeit.
       
   IMG Bild: Zeigt die Aktualität der weiblichen Einsamkeit: Die TV-Serie La Storia
       
       Vor einigen Wochen fuhr in Rom auf vielen Busrücken ein Bild durch die
       Gegend, das zumindest auf mich wirkte, als habe es die Kraft, die Welt für
       einen kurzen Moment anzuhalten. Man schaute darauf und vergaß alles. Die
       Bewegung, den Lärm, die knatternden Motorini, die klingelnde Tram, die
       Passanten, die wild gestikulierten, den Mimosa, der langsam gelb
       aufleuchtete, den dauerblauen Himmel. Tutto. Es war ein Bild der
       Einsamkeit. Der weiblichen Einsamkeit. Oder besser gesagt: Der weiblichen
       Einsamkeit und ihrer Kraft.
       
       Man sah darauf eine Frau mittleren Alters, die durch eine Gasse lief, auf
       ihrem Arm trug sie ein Baby in einem weißen Tuch. Sie wirkte besorgt,
       verhärmt. Das Bild hatte etwas von der berühmten „Die Geschorene von
       Chartre“ [1][des amerikanischen Fotografen Robert Capa]. Auch auf diesem
       Bild läuft eine Frau mit einem Baby auf dem Arm durch die Straßen, auch sie
       wirkt einsam, obwohl sie von einer Menge umgeben ist. Auch sie scheint, als
       würden Scham, Angst und Orientierungslosigkeit auf ihr Herz drücken.
       
       Nun hatte das Bild des Busses an sich natürlich gar nichts mit Capa und den
       geschorenen Frauen im Frankreich des Sommers 1944 zu tun. Gar nichts, dann
       aber wiederum doch auch sehr viel. Es war eine Ankündigung, eine Werbung
       für die von Rai produzierte Serie „La Storia“, der Adaptation von Elsa
       Morantes berühmtestem Roman. Die Frau auf dem Foto, Morantes Protagonistin
       Ida, Iduzza, hat mit Capas Frau aus Chartres mindestens drei Dinge gemein:
       Das Kind auf ihrem Arm ist das eines deutschen Soldaten. Auch sie ist eine
       Frau, die sich im vom Männern geführten Krieg durchschlagen muss. Auch sie
       eine Mutter, die versucht, ihre Kinder in einer in Brand stehenden Welt zu
       Menschen zu machen.
       
       Als Elsa Morantes Roman 1974 erschien, war er eine Sensation. Selten sorgte
       ein Buch für so viel Aufmerksamkeit oder, wie die New York Times damals
       berichtete: „Es ist vielleicht das allererste Mal, dass Menschen in Zügen
       und Espresso-Bars über ein Buch – den Morante-Roman – und nicht über ein
       Fußballspiel oder den letzten Staatsskandal diskutieren. Die Kritiker
       schreiben endlos über die Bedeutung von ‚La Storia‘ und die Gründe für die
       außergewöhnliche Aufregung um dieses Buch.“ Es muss sich tatsächlich um
       eine regelrechte Flut gehandelt haben.
       
       Geschichte mit großem G 
       
       Innerhalb eines Jahres erschienen über 450 Artikel zu dem Thema, gute wie
       schlechte. Morantes Freundin, [2][die Schriftstellerin Natalia Ginzburg],
       hielt das Werk für „den schönsten Roman des Jahrhunderts“, Elsas ehemals
       guter Freund [3][Pier Paolo Pasolini] wiederum fand, sie hätte sich noch
       ein oder zwei Jahre geben sollen. Die Figuren seien unglaubwürdig, die
       Akzente falsch gesetzt und der zweite Teil verfehle sein Thema: Die
       Geschichte mit einem großen G erzählen, ambitionierter könne ein
       literarisches Projekt kaum sein, meinte er. Und hatte recht.
       
       Damals ging das Wagnis für Elsa Morante auf: Das Buch, dessen Preis ihrem
       Wunsch entsprechend niedrig gehalten wurde, weil sie für jene schreiben
       wollte, die sonst nicht lesen, „den Analphabeten, für den ich schreibe“,
       wie es hieß, verkaufte sich in den ersten Monaten fast eine Million mal.
       
       Nun, seitdem das Bild von Ida und ihrem Baby Useppe durch die römischen
       Straßen fuhr und ihre Geschichte in fast acht Stunden Film in die
       italienischen Haushalte strahlte, wiederholt sich das Phänomen noch einmal.
       Morantes Roman steht in den Bestsellerlisten seit Wochen wieder ganz oben
       und wird viel diskutiert. Vielleicht, weil er heute, fünfzig Jahre später,
       erschreckend gut in die Zeit passt. Weil er daran erinnert, dass die
       Geschichte, die ganz große, anders, als wir es vielleicht hofften, nicht
       vorbei ist. Weil er von der Hilflosigkeit der Menschen erzählt, die in ein
       Chaos hineingeworfen werden, aus dem es auf ihrem kleinen Menschenniveau
       außer der Liebe zueinander kaum ein Entkommen gibt.
       
       15 Feb 2024
       
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