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       # taz.de -- Berlinale-Film „The Outrun“: Suche nach dem Wachtelkönig
       
       > Die Regisseurin Nora Fingscheidt lässt ihren Star Saoirse Ronan im Norden
       > Schottlands gegen Dämonen kämpfen. Und gegen den Alkohol.
       
   IMG Bild: Hier ausnahmsweise mit hennarotem Haar: Rona (Saoirse Ronan) in „The Outrun“
       
       Ihre Karriere machte dank der Berlinale einen kräftigen Sprung. Vor fünf
       Jahren hatte die deutsche Regisseurin [1][Nora Fingscheidt mit ihrem
       Spielfilmdebüt „Systemsprenger“] einen überwältigenden Erfolg. Die
       Kinderdarstellerin Helena Zengel verlieh dem Film mit ihren
       Aggressionsausbrüchen eine explosive Energie an der Grenze des
       Erträglichen. Danach folgte 2021 die [2][Netflix-Produktion „The
       Unforgivable“ mit Sandra Bullock] in der Rolle einer Frau, die, nachdem sie
       aus dem Gefängnis entlassen wurde, um ihre Familie kämpft.
       
       Eine Frau in einer extremen Situation ist auch Rona, die Hauptfigur von
       Fingscheidts jüngstem Film, „The Outrun“, der auf einer autobiografischen
       Erzählung der schottischen Autorin Amy Liptrot beruht, sie schrieb auch das
       Drehbuch. Rona lebt in London und studiert Biologie. Sie scheint in ihrem
       Fach gut zu sein. In ihrer Freizeit beherrscht ein anderes Thema ihr Leben.
       Rona ist Alkoholikerin, sie besäuft sich nachts exzessiv, anfangs noch als
       Teil studentischer Feierei, irgendwann beginnen ihre Freunde und vor allem
       ihr Freund Daynin (Paapa Essiedu), sich von ihr zu distanzieren. Rona ist
       für sie schlicht zu schwer zu ertragen.
       
       Saoirse Ronan spielt diese Rona als zwiegespaltenen Charakter. Im
       nüchternen Zustand ist sie freundlich und eher zurückhaltend, mit Alkohol
       im Blut brechen unkontrollierte Regungen aus ihr hervor, die sich nicht
       selten in Aggressionen äußern. Ronan wechselt präzise kontrolliert zwischen
       diesen Polen. Gleich zu Beginn des Films erlebt man sie an einem Tiefpunkt.
       Da ist sie der letzte Gast in einem Pub, will weiter trinken, obwohl man
       ihr zu verstehen gibt, dass die letzte Runde vorbei ist, sie leert die
       angebrochenen Gläser auf dem Tresen und beginnt zu schreien und zu
       schlagen, als ein Kellner sie zur Tür geleiten will.
       
       Die Handlung schaltet danach in beständigem Hin und Her auf mehreren Ebenen
       durch Ronas Leben. Da ist die Gegenwart, in der sie nach einem
       Reha-Aufenthalt zu ihren Eltern zurückkehrt auf die Orkney-Inseln, wo sie
       länger als ein Jahrzehnt nicht mehr war. Daneben gibt es Fragmente aus
       ihrer Zeit als Studentin vor dem Absturz und sehr kurze Rückblenden aus
       ihrer Kindheit. Die verschiedenen Phasen ihrer jüngeren Vergangenheit
       lassen sich dabei mitunter lediglich an den Haaren Ronas unterscheiden. Die
       sind wahlweise, blond, blau und blond mit blauen Spitzen.
       
       ## Elektronische Clubmusik und karge Felslandschaften
       
       Auf den Orkneys findet Rona einen ruhigen Job, sie soll auf den Inseln nach
       Wachtelkönigen suchen, einer gefährdeten Vogelart. Fingscheidt stellt
       Saoirse Ronan dazu in karge Felslandschaften, in denen sie idyllisch
       inszenierten Momenten in der Sonne harte elektronische Clubmusik
       entgegensetzt, die über Ronas Kopfhörer läuft. So ganz scheint Rona noch
       nicht in dieser Einsamkeit ihrer Kindheit und Jugend wieder angekommen. Was
       erschwert wird durch ihre streng religiöse Mutter, bei der sie wohnt, und
       ihren bipolaren Vater, der sich in einen Wohnwagen auf ihrer Farm
       zurückgezogen hat.
       
       Rona zählt die Tage, die sie trocken ist, eine wahre Stütze sind ihre
       Mutter und deren Freundinnen für sie jedoch nicht. Stetige Vorwürfe
       begleiten sie, unterschwellig, doch merklich. Bis Rona sich entscheidet,
       weiter nördlich auf die kleine Insel Papa Westray zu ziehen und sich dort
       in einer Hütte einzumieten. Hier blasen die Elemente in voller Wucht über
       das Eiland, Sturm mit peitschendem Schnee oder Regen gehört im Winter zum
       Normalzustand. Umgeben von diesen unwirtlichen Elementen, scheint Rona
       weiter zur Ruhe zu kommen. Vor allem fügt sie sich bestens in die sehr
       überschaubare Gemeinschaft der Inselbewohner ein.
       
       Die Energie von „The Outrun“ entsteht zum Teil durch die oft heftigen
       Schnitte quer durch die verschiedenen Stationen in Ronas Entwicklung.
       Risse sind, so die Botschaft, bei ihr an der Tagesordnung. Vor allem aber
       ist es Saoirse Ronans Fähigkeit, ihre Figur in einer Weise zerrissen zu
       zeigen, die verschreckend und einnehmend zugleich ist. Nora Fingscheidt
       versteht sich darauf, ihre Darstellerinnen an heikle Punkte zu führen.
       Gegenüber „Systemsprenger“ hat sie ihren Ansatz noch einmal verfeinert. Die
       Orkneys bilden dazu eine hervorragende Kulisse.
       
       16 Feb 2024
       
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   DIR Tim Caspar Boehme
       
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