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       # taz.de -- Leistungen für Geflüchtete: Falsche Rechnungen
       
       > Vage Informationen und hantieren mit dem Währungsrechner: Warum die
       > Debatte um Bezahlkarten an der Lebensrealität Geflüchteter total
       > vorbeigeht.
       
   IMG Bild: Zahlungsmittel oder Kontrollinstrument? Die Debatte um die Bezahlkarte ignoriert unter anderem, dass Schlepper mehr verlangen als ein bisschen „Taschengeld“
       
       Manchmal frage ich mich, wie sich Politiker*innen diese Kalkulation in
       der Realität eigentlich vorstellen. Also ich meine [1][diejenigen, die
       glauben, Geflüchtete würden hier ankommen] mit ganz genauen Vorstellungen
       davon, wie viel Bargeld sie so bekommen. Ich muss an die Menschen denken,
       die mir in den Jahren 2015, 16, 17 begegnet sind.
       
       Die hatten ziemlich vage Vorstellungen und nichts als Gerüchte. Da gab es
       dann einen Onkel Y. in H., der angeblich soundso viel bekam und sogar eine
       eigene Wohnung hatte. Und den Cousin A. in D., der in einer Turnhalle
       hauste und viel weniger bekam. Es kostete die meisten von uns
       Flüchtlingshelfern einige Mühe, uns durch den Formularwust zu kämpfen.
       
       In Wirklichkeit können auch Experten oft nicht auf Anhieb sagen, wie viel
       Geld man bekommt, weil das ja an verschiedenen Faktoren hängt: Dem Stand
       des Asylverfahrens, der Art der Unterkunft (mit Verpflegung oder ohne), der
       Größe der Familie. Versuchen Sie das mal einer Übersetzungsapp zu erklären.
       
       ## Sie rechnen hin und her, bis ihnen schwindelig wird
       
       Die Euro-Beträge gaben diesen Menschen auch oft Rätsel auf. In Afghani oder
       syrischen Pfund hantierte man ja immer gleich mit vier-, fünf-,
       sechsstelligen Beträgen; alles wird in Tausendern, Zehntausendern und mehr
       angegeben. Was aber natürlich nicht bedeutet, dass man in der Heimat davon
       auch wahnsinnig viel kaufen konnte.
       
       Dagegen sehen so dreistellige Eurobeträge erst einmal mickrig aus. Wenn sie
       dann den Währungsrechner bemühen, weiten sich die Augen und die Summen
       sehen für kurze Zeit gigantisch aus.
       
       Bis sie das erste Mal in einem deutschen Supermarkt stehen und sehen, was
       Windeln oder Olivenöl kosten. Sie geben die Preise mehrmals ins Handy ein,
       um sicher zu gehen, dass sie sich nicht vertan haben. Sie rechnen hin und
       her, bis ihnen schwindelig wird. Kann das sein? Ist das richtig so? Was ist
       denn bloß in diesem Wasser drin (außer zu viel Kohlensäure), dass das so
       teuer ist?
       
       Ich vermute schon, dass viele versucht haben, irgendwo etwas abzuzwacken
       und nach Hause zu schicken. Man liest das so aus Andeutungen und Fragen.
       Manche erzählen auch von den Schuldgefühlen gegenüber denen, die ihre Reise
       möglich gemacht haben. Davon, wie viele Hoffnungen auf ihnen lasten.
       
       Ich habe allerdings arge Zweifel, das es jemals genug war, um den nächsten
       Schlepper zu bezahlen. Es blieb einfach nie genug übrig, wie auch. Für die
       erste Reise hatte die halbe Familie zusammen geworfen oder man hatte
       irgendwas verkauft – ein Stück Land oder Vieh, den halben Hausstand oder
       das ganze Haus. Aber hier?
       
       Noch wilder wurde es, wenn dann die ersten Lohnabrechnungen dazukamen. Ich
       erinnere mich an einen jungen Eritreer, der erbost mit dem Gehaltszettel
       herumwedelte. Warum ihm sein Chef denn so viel Geld abgezogen hätte?
       
       ## Was passiert, wenn sich die Abschreckung nicht einstellt?
       
       War das für die Arbeitskleidung? Oder weil er Montag zu spät gekommen war?
       Es war gar nicht so leicht, ihn davon zu überzeugen, dass sein Chef sich
       das nicht selbst in die Tasche gesteckt hatte.
       
       Brutto, netto, Steuern, Sozialversicherung – für ihn klang das erst einmal
       nach ganz seltsamen Ausreden. Ich weiß nicht, wie er das zuhause erklärt
       hat. Aber ich bin mir im Nachhinein ziemlich sicher, dass er vor seiner
       Einreise keine Exceltabelle gemacht hat, mit der sich die Sozialleistungen
       in europäischen Ländern vergleichen ließen.
       
       Was passiert eigentlich, wenn [2][die Plastikkarten, die man jetzt überall
       einführen möchte,] nicht die erhoffte Abschreckungswirkung zeigen?
       Diskutieren wir dann in zwei Jahren über weitere Einschränkungen? Gibt es
       dann ein europäisches „race to the bottom“?
       
       Wie sollen die Bedingungen denn aussehen, damit sich Menschen denken: Och
       nö, da bleibe ich doch [3][lieber in dieser Krisenregion] oder jenem
       überfüllten Flüchtlingslager? Hält das irgendjemand für realistisch? Es ist
       mir ein Rätsel. Aber gut, wenn ich rechnen könnte, wäre ich ja nicht
       Journalistin geworden.
       
       25 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Leistungen-fuer-Asylbewerber/!5982579
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   DIR [3] https://lnob.net/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nadine Conti
       
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