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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Ihre Kunst ist unsere Geschichte
       
       > Die Künstlerin Varda Getzow trägt transgenerationale Traumata in sich.
       > Ihre Werke sind eine stete Auseinandersetzung damit.
       
   IMG Bild: In Varda Getzows Wohnung vermischen sich Arbeit und Leben, Privates und Abstraktes
       
       Die Familiengeschichte von Varda Getzow ist durchzogen von Vertreibung und
       Verfolgung. Egal, wo sie lebt, es bleibt ein unsicheres Leben.
       
       Draußen: In dem Berliner Viertel, in dem Varda Getzow wohnt, kleben überall
       politische Parolen an den Wänden. „Smash fascism and the patriarchy“,
       „Bring them home“ „Settlers fuck off – stop the annexation of Palastine“.
       Selbst in den Slogans sind die Spuren der Verwerfung zu lesen seit dem
       Terrorangriff der Hamas und dem Krieg, den Israel der Hamas erklärte.
       
       Drinnen: Varda Getzow öffnet zögerlich die Tür ihrer hellen Altbauwohnung
       mit Schlafzimmer, Wohnzimmer sowie einem Atelier mit Archiv und Werktisch
       voller Farben, Materialien und Maschinen. Die Künstlerin ist nicht sicher,
       ob sie in diesen Zeiten sichtbar sein möchte. Mit langsamen Handgriffen
       bereitet sie in der Küche einen Tee zu und erzählt, wie sie erstarrt sei,
       als sie wenige Tage nach dem 7. Oktober 2023 in einem kleinen Hotel in
       Polen an der Rezeption eine Gruppe arabisch sprechender Menschen antraf.
       Wie versteinert sie sich gefühlt habe, als in dem Moment eine israelische
       Freundin anrief.
       
       Verunsicherung: Die [1][Ereignisse am 7. Oktober] haben sie erschüttert.
       Einen Monat lang, erzählt sie, habe sie nicht arbeiten oder auch nur vor
       die Tür gehen können, habe nur die Nachrichten verfolgt, geweint und
       gedacht: „Ich kann doch nicht einfach weitermachen, während andere gerade
       vergewaltigt und ermordet werden.“
       
       Trauma: Das Pogrom der radikalislamischen Hamas rührt bei ihr an
       [2][transgenerationalen Traumata]. Im Gespräch verwechselt sie Oktober und
       November, als sie von den Pogromen der Nazis spricht. Pogrome ziehen sich
       durch ihre Familiengeschichte: Getzows Großvater väterlicherseits verlor
       1903 bei antijüdischen Pogromen in Belarus beide Eltern und seine ältere
       Schwester und floh als Siebenjähriger mit seinen zwei weiteren Geschwistern
       nach Deutschland. Als letzter Rabbiner und Kantor in Cochem an der Mosel
       bekam er 1939 ein Visum für Palästina und konnte mit seinem Sohn, Vardas
       Vater, das Land verlassen. Seiner Frau und Tochter gelang die rettende
       Ausreise nicht.
       
       Varda: Der Vorname kommt aus dem Hebräischen und bedeutet Rose. Varda wurde
       nach ihrer Großmutter väterlicherseits benannt. Ihr Vater habe immer wieder
       gesagt, dass sie seiner Mutter und auch seiner Schwester ähnele, Vardas
       Tante. Außer Fotos aber hatte Varda nie etwas von den beiden: Ihre Spuren
       verloren sich während der NS-Zeit im Ghetto von Łódź. 2010 stellte die
       Künstlerin Varda Getzow im Rahmen der Biennale in Bahnhof Radegast in
       Łódźaus, einst der Umschlagplatz für Deportationen. Über eine dort
       ausliegende Transportliste fand sie heraus, dass ihre Großmutter und ihre
       Tante dreieinhalb Jahre im Ghetto überlebt haben, ehe sie ins
       Vernichtungslager Chełmno gebracht wurden: „Meine Großmutter hat als
       Schneiderin eine Werkstatt für BHs und Korsetts geleitet.“
       
       Gedenkkerze: An ihrem Küchentisch bei Tee, Nüssen und Feigen erzählt Varda
       Getzow, sie sei das, was in der Psychologie eine „Gedenkkerze“ genannt
       werde. Die Theorie besagt, dass ein Elternteil bewusst oder unbewusst das
       eigene Trauma an ein Kind überträgt und es mit seinen Erinnerungen und
       Hoffnungen ausstattet, sodass das Kind zur „Gedenkkerze“ für die wird, die
       nicht überlebt haben.
       
       Leben und Arbeit: Getzows Arbeiten umkreisen nie direkt Familiäres, bis auf
       eine Ausnahme, eine Videoinstallation, in der sie sich durch Fotos, die sie
       selbst zeigen, ihrer ermordeten Großmutter und Tante anzunähern versuchte.
       In ihrer Wohnung vermischen sich Arbeit und Leben, Privates und Abstraktes:
       Überall an den Wänden hängen ihre Werke. Im Schlafzimmer neben dem
       Schreibtisch die Zeichnung einer mit Davidsternen und Hakenkreuzen
       gefüllten Vase. Über dem Bett ein großformatiger Siebdruck, den sie für die
       Ausstellung „Under your white stars“ in den Räumen der einstigen Fabrik
       Oskar Schindlers gemacht hat. Dabei thematisierte sie das Leid von Kindern
       im Krieg. Auf weißem Textil sind winzig gezeichnete Kinder zu sehen, die
       allein oder zu zweit, spärlich bekleidet und teilweise auf einem Bein in
       verschiedene Richtungen gehen, verloren in einer weißen Landschaft. Auf die
       Frage, wie gut sie unter dem Motiv schlafe, antwortet sie: „Die Kinder
       passen auf mich auf.“
       
       Kunst: Ihre Ausdrucksformen reichen von Zeichnungen bis hin zu
       Installationen, die sie „Skulpturen für einen bestimmten Raum“ nennt. In
       ihrem Atelier zeigt sie, woran sie gerade arbeitet: Aquarelle, die an
       deformierte Köpfe und zeitgleich an bonbonfarbene Landschaften erinnern.
       Die Reihe, erklärt Varda Getzow, während sie Bild um Bild gegen die Wand
       lehnt, sei von Fotos aus dem Ersten Weltkrieg inspiriert: „Damals gab es
       keine Schönheitsoperationen. Heute wiederum gehen die Menschen mit
       Eingriffen so weit, dass sie am Ende zum Teil deformiert aussehen.“ Auch
       sonst lehnt sich ihre Bildsprache oft an das an, was im kollektiven
       Gedächtnis gespeichert ist. Sie zeigt auf ein Foto an der Küchenwand: „Das
       ist Teil einer Installation, die ich in Frankreich gemacht habe.“ Das Bild
       zeigt einen Jungen, der kopfüber in einem Garten hängt. Durch einen Riss in
       seinem Hemd sieht man auf die Grasfläche hinter ihm. Der Riss verweist auf
       das jüdische Trauerritual, einen Schnitt ins Hemd zu machen und ihn dann
       einzureißen.
       
       Verweise: Der Titel der Installation, erzählt sie, sei ein Zitat. Er
       lautet: „Und die Akazie blühte“ und ist einem Gedicht Haim Nachmann Bialiks
       aus dem Jahr 1903 entlehnt. Es war seine Reaktion auf das Pogrom in Belarus
       im gleichen Jahr. Auch der Titel ihrer Ausstellung „Under your white stars“
       in Krakau stammt aus einem Gedicht. Der jiddische Dichter Abraham Sutzkever
       schrieb es im Ghetto von Wilna. Die gewählten Zitate behandeln die
       Parallelität zwischen der Schönheit von Natur und menschlichen Gräueltaten.
       Das Thema zieht sich motivisch durch ihre Arbeit: „Ich frage mich: Ist
       Natur unschuldig? Oder schreiben sich die Dinge in sie ein?“
       
       Obsession: Schon als Kind hatte Varda Getzow eine Faszination für den
       Holocaust, „eine Obsession“ nennt sie es. Wann immer ihre Eltern
       rausgingen, erzählt sie, suchte sie nach Dokumenten und Bildern aus der
       Vergangenheit. Einmal sei sie dabei im Schrank ihrer Eltern auf Fotografien
       aus den Gaskammern gestoßen und sehr erschrocken. „Meine Mutter wollte nie
       reden. Sie hat immer gesagt: ‚Varda, lass das!‘“
       
       Aufarbeitung: Privat hat sie viel zu ihrer Familiengeschichte recherchiert
       und unter anderem dafür gesorgt, dass in Cochem Stolpersteine für ihre
       Familienmitglieder verlegt wurden und eine Gedenktafel an die Synagoge
       erinnert. Das Gebäude wurde bis auf das Tor, das heute auf dem Jüdischen
       Friedhof steht, zerstört. Zweieinhalb Jahre habe es gedauert, ehe die Tafel
       hing: Der Besitzer des Hauses, das heute dort steht, wo sich die Synagoge
       befand, stellte sich quer. Die Nachbarn im Haus gegenüber brachten die
       Tafel dann bei sich an.
       
       Einfach ein Schwein: Auf die Frage, warum sie trotz all dem von Israel nach
       Deutschland gezogen sei, holt sie aus. Es habe mit dem Film „Jagdszenen aus
       Niederbayern“ von Peter Fleischmann begonnen, der vom Umgang mit Schweinen
       und gleichzeitig vom Umgang mit Außenseitern handelt. Inspiriert davon
       setzte sie sich 1982 mit der Haltung von und zu Schweinen in Israel – wo
       sie als unreine Tiere gelten – und in Deutschland auseinander. Nach einer
       Ausstellung in Tel Aviv „in einer Mall, in der ich die Schweine aus
       Sicherheitsgründen jeden Abend ab- und jeden Morgen neu aufhängen musste“,
       wollte sie die Bilder auch in Deutschland zeigen. In Berlin fand sie eine
       Galerie – „und bin geblieben“. Sie lacht.
       
       Politik: Über Politik direkt reden möchte sie nicht. Sie meint, sie sei
       kein Mensch vieler Worte. „Aber in den letzten Monaten habe ich gemerkt,
       dass meine Arbeiten gerade sehr aktuell wirken.“
       
       8 Mar 2024
       
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