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       # taz.de -- Russen und der Krieg in der Ukraine: Wodka und Tränen
       
       > Die im Krieg in der Ukraine gestorbenen Soldaten verklärt der Kreml zu
       > Helden. Viele Menschen in Russland scheinen gefangen in Gleichgültigkeit
       > und Hass.
       
   IMG Bild: Zum Sterben in die Ukraine: zerstörter russischer Panzer in der Region Charkiw, Mai 2023
       
       Nordrussland/Moskau taz Wenn es Nacht wird im Dorf X, holt Andrei* ein
       Gläschen. Er befüllt es leise aus seiner silbernen Flasche. „Meine
       Spezialmischung“, nennt er das, Primasprit mit Wasser. Es ist oft Nacht im
       Dorf X, fünfzig Kilometer südlich davon verläuft der Polarkreis. Im Winter
       gibt es hier nur ein paar Stunden Schummerlicht am Tag. „Die natürliche
       Dunkelheit ist einfacher zu ertragen als die Dunkelheit, die sich über
       unser Land gelegt hat, die dein Inneres zerfrisst, die auch dann da ist,
       wenn es hell ist über deinem Kopf“, sagt Andrei und nippt am Gläschen.
       
       Im Fernsehen laufen Hits der neunziger Jahre, es ist seine bewusste
       Entscheidung, [1][die immer schriller werdende Staatspropaganda] nicht in
       seine Küche zu lassen. „Diese Schufte haben in meinem Haus nichts zu
       suchen“, fährt er selbst Bekannte an, wenn sie „nur kurz Putins Ansprache“
       sehen wollen. Er habe Prinzipien, sagt Andrei.
       
       Sein richtiger Name und sein Wohnort sind verfremdet, auch das ist eine
       Folge der immer weiter um sich greifenden Repressionen im Land. Die Angst,
       sie sitzt tief in jedem Menschen hier, die Vorsicht, die Sorge, irgendeine
       Linie zu überschreiten, auch wenn niemand von ihnen weiß, wo diese Linie
       ist, wie sie aussehen könnte.
       
       Im „hybriden Totalitarismus“, [2][wie der russische Politikbeobachter
       Andrei Kolesnikow die russische Staatsform mittlerweile nennt], regiert die
       allumfassende Willkür. Die Stimmung in Russland? „Wir halten durch“, sagt
       Andrei.
       
       ## Putins Untertanen
       
       Zwei Jahre dauert der Krieg in der Ukraine an. Tag für Tag Zerstörung, Tod,
       Leid, weil der russische Präsident Wladimir Putin mit Drohnen, Bombern und
       Panzern seiner Logik der historischen Gerechtigkeit folgt und von seinem
       Volk die vollkommene Unterstützung seiner Macht einfordert, die Menschen zu
       seinen Untertanen macht. Diese, jedes Bürgerdaseins beraubt, unterwerfen
       sich in Massen den „militärischen Heldentaten“, sie poltern gegen „diese
       Nazis, die auf unserem Territorium unsere Leute töten“. Sie schauen weg und
       sagen: „Was ist schon dabei?“
       
       Sie sind so in ihrer Gleichgültigkeit gefangen, [3][dass kein Funken
       Empathie sie erreicht], scheinbar nichts kann die Millionen
       Konformist*innen in dieser brüchigen Routine erschüttern. Bis dann der
       Mann an die Front muss, der Sohn im Zinksarg zurückkommt. Sie weinen, sie
       klagen, den Krieg aber stellen sie nicht infrage.
       
       Sie schlucken die Bitterkeit herunter und schleppen sich ermüdet durch ihr
       Leben, als wäre nichts geschehen, auch wenn sie wissen, dass etwas
       Monströses passiert. Manche von ihnen können dieses „Etwas“ nicht in Worte
       fassen und schieben es weg, als könnten sie sich von der Realität loslösen.
       
       Einige spüren das Unrecht, das sich gegen sie richtet, sie tragen weiße
       Kopftücher, diese Farbe der Unschuld, und [4][bringen Blumen an die
       Kremlmauer]. „Mein Mann soll zurückkommen von der Front“, fordern sie. Es
       sollen andere dorthin, die Soldaten, die Freiwilligen, sagen sie dann. Die
       Systemfrage stellen sie nicht.
       
       Es ist schwer, in Russland die Systemfrage zu stellen. [5][Alexei Nawalny]
       hatte sie gestellt, immer und immer wieder. Er tat es auch, ironisch
       feixend, noch hinter den Mauern seiner Strafkolonie, in der Dunkelheit
       hinter dem Polarkreis. Er erlag der staatlichen Folter und mit ihm starb
       auch die Hoffnung vieler Russ*innen auf Veränderung. Auf eine Zukunft.
       
       ## Ende der Hoffnungen
       
       Sein Tod ist nach dem Überfall der zweite Schlag innerhalb von zwei Jahren,
       ein neues „Es darf nicht sein, und es passiert doch vor unseren Augen“, das
       ihnen jegliche Zuversicht raubt. Sie versuchen, optimistisch zu sein,
       versuchen, Nawalnys Aufforderung „Gebt niemals auf! Habt keine Angst!“ als
       Leitlinie für sich selbst in Gang zu setzen. Es gelingt den wenigsten, noch
       sitzt der Schock zu tief.
       
       Ein neues Grauen, während der Horror vom 24. Februar 2022 sich tief
       eingegraben hat und weiter anhält. Wie auch nicht? Sie spüren ihr
       Verlorensein, die Übermacht der Hurrapatriot*innen, der Krakeeler*innen,
       die ihnen ins Gesicht spucken: „Ihr seid die fünfte Kolonne! Vom Westen
       beeinflusst! Ihr zieht unser Land in den Dreck!“
       
       Andrei verzweifelt an „solch einem Unvermögen, selbst zu denken“,
       verzweifelt daran, wie unverfroren der Staat seinen Müttern und Vätern die
       Söhne entreißt und diese Mütter und Väter sich fügen. Geht es denn anders?
       „Mein Sohn hat sich dafür entschieden, dem Staat zu dienen. Nun muss er ihn
       verteidigen, dazu habe ich ihn erzogen“, sagt Andreis Bekannte Lena*.
       
       ## Wieder diensttauglich
       
       Minuten später ruft dieser Sohn, vor einigen Wochen verletzt aus der
       Ukraine heimgekehrt, an und berichtet ihr, die Wehrkommission habe ihn
       wieder für diensttauglich erklärt. In zwei Wochen müsse er wieder
       einrücken. Lena dreht sich weg, weint und sagt: „Er tut das für unser
       Land.“
       
       Andrei hat es aufgegeben, sein Umfeld zu belehren. „Das Regime hat die
       Menschen in die Armut getrieben, sie kämpfen ums Überleben“, sagt er. „Da
       ist es einfach, ihnen ein Gefühl für die Einmaligkeit und Großartigkeit der
       russischen Nation unterzujubeln. Sie lassen sich leicht verführen, geben
       ihre Menschlichkeit fast schon bereitwillig auf.“ Er hatte sich jahrelang
       politisch engagiert, für „mein normales Land“, ein Russland, „das sich
       nicht selbst zerstören soll“, und er hatte auch mit Nawalnys Ideen
       sympathisiert.
       
       Nicht alles an dem Oppositionspolitiker begeisterte ihn, die Kraft des
       Jüngeren aber, Andrei ist über fünfzig, imponierte ihm, diese Fähigkeit,
       den eigenen Idealen zu folgen – bis zum Äußersten. Andrei sagt, „solch
       übermenschlichen Kräfte“ besitze er nicht, und er floh aus der Stadt ins
       Dorf. Zu nah war ihm der Sicherheitsapparat bei seinen politischen Aktionen
       gekommen. Er wollte die Freiheit, nicht den Knast. „Natürlich mache ich
       weiter, aber nicht mehr sichtbar.“
       
       Die zwei Jahre Krieg haben auch in Russland Verheerungen hinterlassen. Tote
       Soldaten, Tausende Festnahmen Andersdenkender, Verurteilungen wegen
       „Diskreditierung der russischen Armee“ und „Verbreitung von Fakes“,
       Umdichtung der Geschichte, Umformung der Gesellschaft, vom Kindergarten an.
       
       ## Panzer in der Manege
       
       „72 Prozent aller Kinder von 5 bis 19 Jahren sollen bis Ende 2024 vom
       patriotischen Bildungssystem erfasst sein“, forderte die für die
       Sozialpolitik zuständige Vizeministerpräsidentin Tatjana Golikowa. Das ist
       seit Jahren im vollen Gange und äußert sich auch darin, dass bei
       Familienvorstellungen im Zirkus plötzlich ein Panzer in der Manege steht.
       [6][Lehrer*innen haben kein Problem, den Kindern das Lesen und Schreiben
       mit Texten beizubringen wie diesem: „Tolik will Soldat sein und alle seine
       Feinde mit seiner Pistole erschießen. Er ist ein Held.“]
       
       „Wer die Luft des Terrors atmet, stirbt, auch wenn er zufällig am Leben
       bleibt“, hatte Nadeschda Mandelstam in ihren Erinnerungen geschrieben. Die
       sowjetische Autorin hatte ihren Mann Ossip, der in seinen Gedichten Stalin
       angegangen war, 1938 im Gulag verloren.
       
       Heute weihen Politiker in ihren Städten Stalinbüsten ein, Schüler*innen
       defilieren vorbei. Sie sehen sich als Teil einer großen Mission und sind
       Hasser geworden, an deren taubblinder Weltsicht jedes Argument abprallt.
       Es ist ein erheblicher Teil der Gesellschaft. „Es bleiben Wodka und
       Tränen“, sagt Andrei an seinem Küchentisch im Dorf X. Seine silberne
       Flasche steht am Fenster.
       
       26 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Inna Hartwich
       
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