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       # taz.de -- Sicherheitsexpertin über Ukraine-Krieg: „Kein Interesse an Eskalation“
       
       > Die finnische Sicherheitsexpertin Minna Ålander fordert zuverlässige
       > Waffenlieferungen vom Westen. Verhandlungen mit Moskau sieht sie derzeit
       > nicht.
       
   IMG Bild: Ein ukrainischer Soldat mit einem Raketenwerfer sowjetischer Bauart im Donbas im Februar 2024
       
       taz: Frau Ålander, zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf
       die Ukraine ist kein Ende in Sicht. Wie steht es um die ukrainische Armee? 
       
       Minna Ålander: Nicht besonders gut. Die Ukraine hat schon länger [1][mit
       Munitionsmangel] zu kämpfen, und das zeigt sich dann auch an der Front.
       
       Das Beispiel Awdijiwka in der Ostukraine hat gezeigt, dass die Ukraine
       einer Dauerbelagerung durch die russische Armee nicht standhalten kann. Was
       bedeutet das? 
       
       Awdijiwka zeigt, [2][wie dieser Krieg momentan abläuft.] Es sind harte
       Kämpfe um wenige Quadratkilometer. Die Front hat sich seit letztem Sommer
       nicht viel bewegt. Und man sieht auch auf der russischen Seite, wie die
       Eroberung eines kleinen Dorfes gefeiert wird. Es geht für beide Seiten um
       Meter und Zentimeter. Im Fall von Awdijiwka musste die Ukraine aufgeben
       nach einem sehr langen, harten Kampf. Russland ist es besser gelungen, als
       wir gehofft haben, die eigenen Vorräte aufzustocken. Zudem konnte Russland
       in den letzten zwei Jahren die Kriegsproduktion stark erweitern und
       steigern. Trotz der westlichen Sanktionen. Das sind alles schlechte
       Nachrichten.
       
       Wie stark ist die russische Armee wirklich? 
       
       Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Wir haben am Anfang des Krieges
       und vor allem vor der Großinvasion die russische Armee überschätzt. In
       vielen westlichen Ländern dachte man, die Ukraine hätte keine Chance gegen
       Russland. Deshalb hat man die Ukraine vor der Invasion erst mal nicht
       unterstützt. Auch nach dem 24. Februar 2022 kam die Unterstützung nur sehr
       zögerlich. Dann waren viele überrascht, wie schlecht es doch für Russland
       lief. Die Einschätzung über den Zustand der russischen Armee schwingt von
       einem Extrem ins andere.
       
       Aber: Russland hat einen größeren Pool an möglichen Wehrpflichtigen, wenn
       eine neue Mobilisierungswelle kommt. Russland hat dank Nordkorea, Iran oder
       auch teilweise China die Kriegsproduktion steigern können. Die Waffen sind
       zwar nicht hochtechnologisiert, dennoch effektiv genug. Russland setzt auf
       Masse, und das funktioniert leider. Im Westen sollten wir Russland nicht
       unter-, aber auch nicht überschätzen.
       
       Was braucht die ukrainische Armee konkret? 
       
       Munition vor allem. Sie braucht aber auch eine bessere Luftverteidigung und
       noch mehr Raketen. Damit kommen schnell die politischen Grenzen des Westens
       ins Spiel. Darf und soll sie auch tiefer im russischen Territorium
       angreifen? Wenn die Ukraine in diesem Jahr F-16-Kampfjets bekommt, wird
       dies einen Unterschied machen. Aber auch mehr Landsysteme, nicht nur
       Kampfpanzer, sondern alles, was dazugehört, würde helfen. Aber am Ende
       kommt es auf ausreichende Mengen an Munition an. Kein einzelnes
       Waffensystem wird den Kriegsverlauf entscheiden, aber jedes System ist ein
       Teil des Ganzen. Die Unterstützung muss vor allem langfristig geplant sein
       und aufrechterhalten bleiben. Die Logistikketten müssen funktionieren,
       damit es – wenn es aus politischen Gründen Ausfälle bei den westlichen
       Partnern gibt, keine Lücken gibt.
       
       Was erwarten Sie von den westlichen Verbündeten? 
       
       Es braucht schnelle Lösungen. Die größten Sorgen bereiten derzeit die USA.
       Die Unterstützung für die Ukraine ist leider Gegenstand des politischen
       Geschehens im Wahljahr für einen neuen US-Präsidenten geworden. Welche
       Entscheidung in den USA getroffen wird, wird zur Schicksalsfrage für
       Europa. Sind wir in der Lage und vor allem willens, jetzt unseren Beitrag
       zu erhöhen, damit die Ukraine weiterkämpfen kann? Die Sicherheitsabkommen
       mit Frankreich, Deutschland und Großbritannien sind ein sehr gutes Zeichen,
       dass Europa weiterhin am Ball bleibt.
       
       Aber diese Abkommen müssen nun mit tatsächlichen Inhalten und Taten gefüllt
       werden. Die Worte: „Wir stehen der Ukraine bei, solange wie nötig“ – das
       dürfen keine leeren Worte bleiben. Die Frage bleibt aber: Reichen die
       Kapazitäten in Europa aus, falls wir tatsächlich im Ernstfall für den
       Beitrag der USA aufkommen müssen? Das ist im Moment sehr fraglich.
       
       In Deutschland wird seit Monaten über die Lieferung von Marschflugkörpern
       vom Typ Taurus diskutiert. Wäre aus militärstrategischer Perspektive eine
       solche Waffe überhaupt sinnvoll? 
       
       Ja, absolut. Raketen aller Art sind wichtig für die Verteidigung der
       Ukraine. In dieser Diskussion zeigt sich erneut das Problem der beständigen
       Versorgung. In Europa sind die Vorräte nicht sonderlich groß. Ähnliche
       Waffen wie die britischen Storm Shadow oder die französischen Scalp kommen
       bereits zum Einsatz. Käme der Taurus dazu, könnte das Arsenal aufgestockt
       werden. Es würde für die Ukraine einen deutlichen Unterschied machen, wenn
       sie militärische Ziele auf russischem Territorium treffen könnte. Im
       Kanzleramt denkt man offenbar, das geht zu weit und man erhöht damit das
       Eskalationsrisiko.
       
       Leuchtet Ihnen dieses Argument nicht ein? Mit einer Reichweite von bis zu
       500 Kilometern kann der Taurus Russland treffen. 
       
       Ob es zu einer neuartigen Eskalation kommen würde, kann keiner sagen.
       Russland eskaliert täglich mit neuen Angriffen auf die ukrainische
       Zivilbevölkerung. Kanzler Scholz spricht davon, dass die Ukraine nicht
       verlieren darf, und Russland darf nicht gewinnen, aber nicht umgekehrt. Und
       das macht eben einen Unterschied, was für Unterstützung man bereit ist zu
       gewähren. Kanzler Scholz ist offenbar bereit, die Ukraine dabei zu
       unterstützen, ihre Städte vor russischen Luftangriffen zu schützen.
       
       Aber er zögert, die Ukraine so weitgehend zu unterstützen, dass sie
       Russland daran hindern könnte, ukrainische Städte anzugreifen. Ich
       persönlich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass es zu einer nuklearen
       Eskalation kommt. Ich glaube auch, dass Russland kein wirkliches Interesse
       daran hat. Wahr ist auch, [3][dass der Taurus den Kriegsverlauf nicht
       entscheiden] oder den Krieg gar beenden wird. Aber es wäre enorm nützlich
       für die Ukraine, auch dieses System zu haben und ihre Vorräte an Raketen
       aufstocken zu können.
       
       Mit der Schlagkraft der Marschflugkörper könnte die Ukraine auch
       Versorgungswege auf die Krim kappen. 
       
       Militärstrategisch wäre das sinnvoll. Es wäre dann möglich, die Brücke zur
       Krim zu zerstören und militärische Infrastruktur dort zu eliminieren. Die
       Krim ist für Russland ein wichtiger Punkt, um die Ukraine anzugreifen. Auch
       hier bleibt die Frage: Ist Deutschland bereit, die Ukraine so weitgehend zu
       unterstützen, dass Russland tatsächlich an weiteren Angriffen gehindert
       werden kann?
       
       Kanzler Scholz hat kurz nach dem 24. Februar 2022 eine Zeitenwende in
       Deutschland eingeläutet. Inwiefern hat sich auch die Bedeutung des
       Militärbündnisses Nato mit dem Krieg verändert? 
       
       Der Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands war und ist ein Momentum. Er
       stärkt die Rolle der Nato und zeigt, dass das Bündnis die stärkste
       Abschreckung bietet. Leider laufen wir im Moment Gefahr, dass die USA
       dieses Momentum verpassen und verpuffen lässt. Schuld daran sind die
       innenpolitischen Spiele um die Unterstützung der Ukraine und dann natürlich
       die jüngsten Aussagen von Ex-Präsident Trump über Nato-Partner, die nicht
       das 2-Prozent-Ziel erfüllen. Die Relevanz der Nato ist ganz klar, aber die
       Instabilität der USA ist ein großes Problem geworden.
       
       Was bedeutet der Nato-Beitritt Finnlands, ihres Heimatlandes, konkret für
       die Entwicklungen im Ukrainekrieg? 
       
       Die finnische Beteiligung ändert so ziemlich alles, vor allem in der
       Ostseeregion. Für die Nato gab es zuvor die große Frage, wie können die
       baltischen Staaten effektiv im Ernstfall verteidigt werden. Diese Frage
       klärt sich jetzt mit dem Beitritt Finnlands und Schwedens vor allem für
       langfristige Planungen. Hinzu kommt: Erstmals seit dem Kalten Krieg
       bereitet die Nato wieder regionale Verteidigungspläne vor. Es erleichtert
       diese Planung wesentlich, Finnland und Schweden als Vollmitglieder
       dabeizuhaben. Finnland hat die Fähigkeiten seiner nationalen
       Landesverteidigung über die Jahre aufrechterhalten.
       
       Das macht die Lage für Russland deutlich komplizierter. Gäbe es einen
       Angriff auf die baltischen Staaten, müsste Russland [4][die lange Grenze
       mit Finnland] berücksichtigen, immerhin verläuft diese von der Ostsee bis
       in die Arktis. Das ist ein enormer Unterschied zu früher. Auch deshalb ist
       es nicht wahrscheinlich, das Russland demnächst die baltischen Staaten
       angreift.
       
       Stärkung der Nato einerseits. Sehen Sie andererseits auch den Moment für
       eine echte gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik in der EU? 
       
       Die Notwendigkeit ist da – und nun kommt es auf die nächsten Jahre an. Die
       EU hat die Ukraine direkt militärisch unterstützt, die Nato hat dies
       absichtlich nicht direkt getan, sondern die Bündnisländer tun dies auf
       bilateraler Ebene. Auch das Ramstein-Format, ein Forum verschiedenster
       Staaten, die die Ukraine militärisch unterstützen, ist kein Nato-Format,
       sondern Bündnisstaaten koordinieren ihre Hilfe. [5][Die EU ist kein
       Militärbündnis], weshalb sie eine andere Koordinierungsebene für
       europäische Länder bietet. Eine Arbeitsteilung zwischen der EU und der Nato
       kann im Eskalationsmanagement gut funktionieren. Wenn es etwas Positives in
       dieser düsteren Situation gibt, dann ist es die neue aktive Rolle der EU.
       
       Aufrüstung kostet und erfordert Sparmaßnahmen. Müssen wir das in Kauf
       nehmen? 
       
       Es wird einerseits auf die Haushaltslage in den jeweiligen Ländern
       ankommen, aber andererseits auch auf ihre Rolle in den neuen
       Verteidigungsplänen der Nato. Nicht jedes Bündnismitglied muss in alles
       investieren, und nicht alle können sich jede militärische Fähigkeit
       leisten. Größere Länder mit stärkerer Wirtschaftsleistung müssen
       gegebenenfalls in Systeme investieren, die der gesamteuropäischen
       Verteidigungsplanung zugutekommen. Allerdings ist der wirtschaftliche Druck
       derzeit überall enorm hoch. Investitionen in Panzer oder Kindergärten? Das
       werden schwierige Debatten werden in manchen Ländern.
       
       In anderen stellt sich die Frage nicht, weil die Bedrohung als dringender
       wahrgenommen wird. Zum Beispiel in Finnland ist es klar, dass Panzer eine
       Voraussetzung für das Fortbestehen der Kindergärten sind. Die
       Verteidigungsausgaben werden steigen, aber mehr als auf die Summe wird es
       darauf ankommen, wofür das Geld ausgegeben wird – ob die Hälfte des
       Wehretats etwa aus Rentenzahlungen besteht. Auch hier ist eine gute
       Gesamtplanung gefragt.
       
       Die Kriegslage ist verfahren. Sehen Sie eine Chance für Verhandlungen? 
       
       Um Verhandlungen sinnvoll führen zu können, muss man erst mal einen Punkt
       erreichen, an dem Russland sich gezwungen sieht, ehrlich zu verhandeln.
       Dieser Zeitpunkt ist in weiter Ferne. Russland kann momentan keine
       unabhängige, in den Westen integrierte Ukraine akzeptieren. Deshalb gibt es
       hier keine Kompromissmöglichkeiten. Entweder hat jedes Land das souveräne
       Recht zu entscheiden, ob es der Nato oder der EU beitreten will, oder kein
       Land hat es. Russland hat den Minsk-Prozess zu seinen Gunsten ausgenutzt,
       um seine Positionen in der Ostukraine zu festigen und auch eine
       Großinvasion zu ermöglichen. Auch ältere Abkommen, wie das Budapester
       Memorandum, das der Ukraine Sicherheitsgarantien geben sollte, hat Russland
       nicht respektiert. Momentan gibt es deshalb keine Vertrauensbasis, mit
       Russland zu verhandeln.
       
       23 Feb 2024
       
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