# taz.de -- Tucker-Carlson-Interview: Putin, der Antisemit
> Mit Schuld- und Geschichtsverdrehungen entlarvt sich Wladimir Putin als
> Judenhasser. Der ultrarechte Pseudojournalist Tucker Carlson bot ihm
> dafür die Bühne.
IMG Bild: Der Hobbyhistoriker Putin erklärt Tucker Carlson sein antisemitisches Weltbild
Am 9. Februar veröffentlichte Tucker Carlson sein Interview mit Wladimir
Putin. Während westliche Beobachter*innen erneut über Putins
Geschichtsmärchen und krude Verschwörungsfantasien den Kopf schüttelten,
wurde der frühere Fox-News-Moderator Carlson im russischen Staatsfernsehen
gefeiert. Das Interview galt als „Durchbruch der Informationsblockade“, gar
als „Sieg der Wahrheit“.
Wenige Tage später bremste Putin selbst die Euphorie: In einem
[1][Interview mit dem Staatssender Rossija 1] bedauerte er heuchlerisch,
dass scharfe aggressive Fragen in dem zweistündigen Gespräch ausgeblieben
seien. Wichtige Themen seien dadurch nicht aufgegriffen worden.
Scharfe Fragen und wichtige Themen? Etwa Russlands unverantwortliche
Atomdrohungen, enge Kontakte mit der Hamas, Kriegsverbrechen in der Ukraine
oder [2][das Schicksal von Alexej Nawalny], dessen Märtyrertod kurz danach
gemeldet wurde?
Fehlanzeige! Putin ging es um die Judenpogrome im Zarenreich vor dem Ersten
Weltkrieg. Über die Pogrome soll er mit Carlson erst nach dem Interview
gesprochen haben.
## Zarengeschichten
Carlson ersparte also seinem internationalen Publikum eine weitere
Geschichtsstunde des Hobbyhistorikers aus dem Kreml – eine
Geschichtsstunde, die jedoch im russischen Staatsfernsehen nachgeholt
wurde. Und das war ein typisches Geschichtsreferat à la Putin – ein wirres
Zusammenwürfeln von Ereignissen und Tendenzen, reich an Verzerrungen,
Manipulationen und abstrusen Interpretationen: Die Judenpogrome, die nun
zur Dämonisierung Russlands genutzt würden, hätten ohnehin vor allem in der
Ukraine stattgefunden, während die russische Bevölkerung jüdische Opfer zu
verteidigen versucht habe.
Die Tatsache, dass die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung von
russischen Nationalisten organisiert, von zaristischen Behörden gebilligt
und vom Zaren Nikolaus II. wohlwollend registriert wurden, blendete der
Zarenreichverehrer Putin kurzerhand aus.
Mit seinen Ausführungen wollte der Kremlchef wohl den vom US-amerikanischen
Department of State verbreiteten Bericht über die Kontinuität der
antisemitischen Propaganda im Zarenreich, in der UdSSR und in der
Russischen Föderation desavouieren. Für zahlreiche US-amerikanische Juden
und Jüdinnen, deren Vorfahren Russland vor dem Ersten Weltkrieg verlassen
hatten, sind die Pogrome im Zarenreich ein Teil ihrer Familiengeschichte.
Und ihre Berichte davon unterscheiden sich grundsätzlich von Putins
Narrativ.
## Gaza als Leningrad
Die Judenpogrome im Zarenreich sind ein neues „jüdisches“ Thema für Putin.
Ansonsten konzentriert er sich auf die israelische Kriegsführung, auf den
nationalsozialistischen Judenmord und vor allem auf die jüdische Herkunft
des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Das Verhältnis zwischen Israel und Russland hat sich nach dem russischen
Überfall auf die Ukraine drastisch verschlechtert. Obschon Israel weder
Waffen an die Ukraine liefert noch Sanktionen gegen Russland verhängt hat,
unterstützt es politisch und diplomatisch das angegriffene Land. Die
Moskauer Rhetorik über das „Kiewer Naziregime“ wird zurückgewiesen, die
propagandistische Vereinnahmung des Holocausts verurteilt.
Hinzu kommen die Auswanderung etlicher russischer Regimegegner*innen
nach Israel, Russlands Kontakte mit der Hamas und dem Iran sowie eine
antiisraelische, [3][zunehmend antisemitisch gefärbte offizielle
Berichterstattung] über den Krieg im Nahen Osten. Dieser Krieg wird von
Moskau genutzt, um die vermeintlich humane und behutsame russische
Kriegsführung dem israelischen „totalen Krieg“ gegenüberzustellen. Im
Umlauf sind Völkermordvorwürfe und von Putin besonders beliebte Vergleiche
zwischen der nationalsozialistischen Leningrader Blockade und der
israelischen Gazapolitik.
## Selenskyj als „Jude“ an der Spitze der „Nazis“
Carlson scheint Putins Ziel aber durchgeschaut zu haben. Um
Antisemitismusvorwürfe zu vermeiden, ließ er sich auf die Geschichten rund
um Gaza und das Zarenreich nicht ein. Im Hinblick auf den Holocaust und
Selenskyjs jüdische Herkunft ließ der US-Moderator sein Visavis allerdings
gewähren. So machte Putin ukrainische Nationalisten für die
Judenvernichtung verantwortlich und bekräftigte somit die in Russland
inzwischen verbreitete Tendenz, den Judenmord in der Ukraine und im
Baltikum vor allem als Projekt lokaler Kollaborateure darzustellen und die
Rolle der NS-Täter herunterzuspielen.
Wolodymyr Selenskyj wird in der russischen Propaganda als Jude (und somit
„Nichtukrainer“) dargestellt, der seine Vorfahren verraten habe und an der
Spitze der ukrainischen „Nazis“ stehe. Putin verbreitet gerne dieses
Feindbild, das ihm merklich gefällt. Im [4][Interview mit Carlson] erzählte
er außerdem über Selenskyjs Vater, der gegen die Nazis als Rotarmist an der
Front gekämpft habe und – im Gegensatz zu seinem Sohn – wohl ein
anständiger Mensch gewesen sei. Gemeint war wohl Selenskyjs Großvater
Semen: Der Vater Oleksandr kam erst 1947 auf die Welt. Der peinliche Fehler
wurde jedoch in offiziellen russischen Publikationen nicht korrigiert.
Der Antisemitismus – mal subtil, mal offen – ist zu einem Bestandteil der
russischen Politik und Propaganda geworden. Sein aktueller Anstieg ist zwar
situationsbedingt, er spiegelt jedoch das Weltbild von Putin und seiner im
spätsowjetischen KGB beruflich sozialisierten Mitstreiter wider. [5][Im KGB
waren antisemitische Vorstellungen] über die „jüdische Weltherrschaft“ fest
verankert, wobei der Untergang der UdSSR als eine bittere Niederlage im
Kampf gegen den von „den Juden“ dominierten Westen wahrgenommen wurde.
Diese Besonderheit erklärt möglicherweise eine vorgegaukelte
Judenfreundlichkeit, die Putin lange an den Tag gelegt hat. Seine
philosemitische Maske ließ Wladimir Putin jedoch inzwischen fallen. Hinter
ihr blickt ein antisemitisches Gesicht hervor.
23 Feb 2024
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