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       # taz.de -- Dokumentarfilm „Acasă“ über Roma-Familie: Für sie ist kein Platz
       
       > Das Dokumentarfilmdebüt „Acasă“ des rumänichen Regisseurs Radu Ciorniciuc
       > begleitet eine Roma-Famlie. Sie müssen einem Naturpark weichen.
       
   IMG Bild: Die Familie Enaches im Bukarester Park von Văcărești
       
       Wir tauchen ein, fast buchstäblich: Da wuchert Natur, da ist ein See und
       Schilf, da ist ein Boot, da sind Fische, sie werden mit Händen gefangen.
       Hunde, Katzen, ein Schwein läuft herum. Eine Idylle, durch die sich die
       Kamera bodennah und auf Augenhöhe bewegt, für einen Moment kann man
       denken, man sei durch irgendeine Hintertür in den Garten Eden geraten.
       
       Die Menschen aber, die hier leben, haben nicht viel: eine windschiefe und
       wacklige Hütte, eine Tür, die nicht schließt, die Tiere streunen herein, es
       gibt wenig zu essen, hier sind nicht Adam und Eva zu Hause, sondern die
       Roma-Familie der Enaches: Vater und Mutter und ihre neun Kinder.
       
       Seit zwanzig Jahren leben sie hier. Hier: Das ist draußen, gleich vor der
       Stadt. Die Stadt ist Bukarest, das Land Rumänien, der Garten Eden der
       [1][Park von Văcărești]. Einst wollte Ceaușescu ihn fluten, der Damm am
       Rand wurde gebaut, dann spülten die Zeitläufte den ehemaligen Diktator
       Ceaușescu davon. Große Pläne gab es für einen Sport- und Kulturkomplex, die
       Investoren kamen und gingen, nichts wurde daraus.
       
       Am Ende beschloss man, die verwilderte, von einer Vielzahl von Pflanzen
       und Tieren besiedelte Gegend zum Naturpark zu machen. Die Existenz der
       Familie Enache ist den Behörden bekannt, auch dass der Vater die Kinder der
       Schulpflicht entzieht.
       
       Die ersten Minuten verbringt Radu Ciorniciucs Dokumentarfilm mit den
       Enaches in ihrer Natur, dann aber setzt die Kamera per Drohne zu einem
       Höhenflug an. Erst sieht man von oben nur das Grüne, dann seine Grenzen:
       der Damm, ein Fluss, dahinter die unabsehbar sich erstreckende Stadt. Diese
       Bewegung nach oben ist das Omen der Vertreibung, die folgt.
       
       Erst wird die Familie weiter geduldet, man sieht, wie Vater Enache die nun
       durch seinen Garten Eden Trampelnden mit sichtlichem Misstrauen beäugt.
       Einmal taucht sogar [2][kein Geringerer als Prinz Charles] auf, dem die
       Verwandlung der Wildnis in einen Naturpark, den größten in der EU gar,
       gefällt.
       
       ## Der Staat ist streng, aber freundlich
       
       Die Enaches jedoch müssen gehen, da richtet auch die Suiziddrohung von
       Vater Enache wenig aus. Der Staat nähert sich streng, aber freundlich, man
       weist der Familie eine Sozialwohnung zu, die Kinder werden in die Schule
       gesteckt.
       
       Regisseur Ciorniciuc, der vor diesem Debüt als Investigativjournalist
       gearbeitet hat, folgt den Enaches, er folgt ihnen durch die Jahre, hinaus
       aus dem Park, hinein in die Stadt, in die winzige Wohnung, er folgt den
       Kindern in die Schule, dem Vater ins Krankenhaus, dem einen Sohn in einen
       kleineren Park in der Stadt, in dem er illegal Fische fängt und von der
       Polizei brutal abgestraft wird; hier und auch in der Schimpfkanonade eines
       Nachbarn kommt der Anti-Roma-Rassismus ins Bild.
       
       Je länger es geht, desto mehr werden auch die Konflikte in der Familie
       selbst deutlich, der Widerstand der Söhne gegen das autoritäre Gebaren des
       Vaters. Gerne hätten sie die Wahl gehabt, zum Beispiel Lesen und Schreiben
       zu lernen.
       
       Nichts von alledem wird kommentiert und erläutert. Über Für und Wider des
       Lebens der Enaches in der Natur, über Für und Wider ihrer
       Zwangszivilisierung, über das eine und das andere Elend muss man sich
       selbst ein Bild zu machen versuchen. Nicht leicht, wenn so viele Kontexte
       fehlen, da der Film an keiner Stelle Hintergründe oder Strukturen erklärt.
       Aber vielleicht ist die Solidarisierung, die sich aus dem entschlossenen
       Dabeisein ergibt, auch die einzig richtige Haltung.
       
       Es ist ein Film, der sich über das, was er zeigt, nicht erhebt. Der bei und
       mit den Enaches ist, für die in der rumänischen Gesellschaft kein rechter
       Platz ist. Ihnen über neunzig Minuten diesen Raum zu geben und auf diese
       Weise für sie zu sein: Das ist dann wieder nicht wenig.
       
       1 Feb 2024
       
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