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       # taz.de -- Nachruf auf Sozialökonom Gert Wagner: Sein Kernthema war Gerechtigkeit
       
       > Gert Wagner war ein großartiger Sozialökonom, Vermittler zwischen
       > Wissenschaft und Journalismus. Jetzt ist der treue taz-Genosse plötzlich
       > verstorben.
       
   IMG Bild: Gert Wagner
       
       Berlin taz | Gert Wagners letzte Mail trug den Betreff „Vom Wiegen wird die
       Sau nicht fett“. Das war sehr typisch für ihn, er wusste schon, wie er
       seine Themenvorschläge und sonstigen Anregungen auf den Punkt bringen
       musste, um sich Aufmerksamkeit zu sichern. Im konkreten Fall meinte Gert
       Wagner mit der zu wiegenden Sau, dass es nicht lohne, eine Art
       „Klimabremse“ für mehr Klimaschutz ins Grundgesetz zu schreiben, denn das
       würde dem Klima nicht helfen, sondern bloß die nötige Debatte über das
       „Wie“ verzerren.
       
       [1][Näheres war dann der taz Ende September zu entnehmen], denn auf einen
       Themenvorschlag folgte dann ja in kurzer Zeit oft auch der druckbare, also
       nicht extra von Wissenschaftsjargon zu befreiende Beitrag. Dabei war Gert
       Wagner ein Professor, dessen Titel und Funktionen hier mehr als einen
       Absatz einnehmen würden, und damit wären seine mannigfaltigen,
       studienunterfütterten Interessen noch immer nicht beschrieben.
       
       Er war bei uns meist zufrieden damit, bloß als „Sozial- und
       Wirtschaftswissenschaftler“ vorgestellt zu werden, sofern dabei noch
       irgendwie sein Lieblings-, wenn nicht sogar wissenschaftliches
       Lebensprojekt auch erwähnt wurde: das SOEP. Hier also – auch für Gert
       Wagner: Das Sozio-oekonomische Panel ist eine gigantische Statistik, für
       die etwa 30.000 Menschen in knapp 15.000 Haushalten in Deutschland
       regelmäßig nach Lebens- und Einkommensumständen befragt werden. Und zwar
       seit 1984. In diesem wunderbaren Datenbergwerk, angesiedelt am Deutschen
       Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, werden am laufenden
       Meter neue Erkenntnisse darüber geschürft, wie es der Bundesrepublik geht.
       
       [2][Auch die taz verwendet regelmäßig SOEP-Daten], spricht mit
       SOEP-ForscherInnen, grübelt mit ihnen über Unterschiede zwischen SOEP-Daten
       und etwa denen des Statistischen Bundesamts. Gert Wagner war von 1989 bis
       2011 Chef des SOEP. Es war erkennbar sein Wunsch und Ehrgeiz, dass nicht
       nur die taz, sondern die gesamte Presse lernte, anständig mit Statistiken
       und Daten umzugehen und ihnen aber auch im richtigen Moment zu misstrauen.
       Vielleicht ist es nicht übertrieben zu sagen: Wahrscheinlich war Gert
       Wagner die größte Ein-Prof-Bewegung Deutschlands zur Versöhnung von
       Wissenschaft und Journalismus.
       
       ## Sein Kernthema war Gerechtigkeit
       
       Wobei ich glaube, dass er lieber mit der Presse als mit der Politik
       zusammenarbeitete, auch wenn er viele Jahre in Räten und Kommissionen
       diverser Regierungen saß und ihnen auch vorsaß, etwa von 2014 bis 2020 dem
       Sozialbeirat der Bundesregierung. Doch spätestens seitdem Wagner 2002 und
       2003 in Kanzler Gerhard Schröders (SPD) „Rürup-Kommission“ Reformvorschläge
       für die Sozialsysteme mit ausgearbeitet hatte, wusste er ja, dass solche
       Gremien nur dazu dienen, [3][der Politik die Legitimationsarbeit abzunehmen
       und eine gute Show abzuliefern] – und am Ende wird umgesetzt, was das
       Kanzleramt eh schon wollte.
       
       Wagner selbst hätte das so nicht formuliert. Er hatte das Pech, dass die
       von ihm ausformulierte „Kopfpauschale“ im Gesundheitssystem, eine Art
       Kopfsteuer statt des prozentualen Krankenkassenbeitrags, von der SPD
       abgelehnt und von der CDU unter Angela Merkel als Hilfsmittel für mehr
       Privatisierung gekapert wurde. Dabei hatte er sich das so überhaupt nicht
       gedacht. Denn natürlich war Wagner im Grundsatz Sozialdemokrat, auch
       Mitglied – Letzteres nur nicht sehr prononciert. Sein Kernthema war
       jedenfalls Gerechtigkeit.
       
       [4][Er wollte eben nur nicht, dass an der falschen Stelle nach
       Gerechtigkeit gesucht wurde.] Es machte ihn zum Beispiel sauer, dass viele
       Jahre lang über ein „Schrumpfen der Mittelschicht“, den „Abstieg der Mitte“
       und Ähnliches gesprochen wurde, obwohl sich das in den Zahlen gar nicht
       abbildete. Auch die Lebenszufriedenheitsmessungen gaben das, bis in die
       Pandemie hinein, nicht her. Selbstmitleid und eingebildete Ängste von
       Gar-nicht-so-schlecht-VerdienerInnen, meinte er, verbauten den Blick auf
       die echten Prekären, die SaisonarbeiterInnen oder illegal Beschäftigten.
       
       Im Auge hatte er mit dieser Kritik übrigens nicht nur die JournalistInnen,
       sondern auch so manchen Professorenkollegen gerade am DIW, das Wagner
       selbst neben dem SOEP kurzfristig geleitet hatte. Für ihn war
       Gerechtigkeitsempfinden eine öffentliche Ressource, mit der sorgfältig
       gehaushaltet werden muss, die nicht verschwendet werden darf – und schon
       gar nicht mit falschen Interpretationen von Zahlen.
       
       Wagner war Fußballspieler, bis ihm sein Knie dazwischenkam. In seinem
       hessischen Geburtsort Kelsterbach hatte er vor 50 Jahren den ersten
       alternativen Freizeitsportclub gegründet. Er folgte originellen Diätplänen,
       und er war mit seinem Alter manchmal etwas eitel, dabei hatte er noch nach
       seiner Emeritierung mehr Ideen pro Woche als andere im ganzen Berufsleben.
       Er förderte Nachwuchstalente, wo er sie sah, und ging dafür auch Risiken
       ein. Die taz hat so viel von ihm, der auch treuer taz-Genosse war, gelernt.
       Am vergangenen Sonntag ist er im Alter von 71 Jahren plötzlich verstorben,
       und wir ringen damit, das zu verstehen.
       
       31 Jan 2024
       
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