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       # taz.de -- Holocaust-Gedenken im Bundestag: „Sei ein Mensch“
       
       > Der Bundestag gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus. Die
       > Holocaust-Überlebende Szepesi erinnert an die NS-Anfänge und wünscht sich
       > zu handeln.
       
   IMG Bild: Die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi neben Bundespräsident Frank-Walter im Bundestag am 31. Januar
       
       Berlin taz | „Die Shoa hat nicht mit Auschwitz begonnen. Sie begann mit
       Worten und dem Schweigen und Wegschauen der Gesellschaft“, sagt Eva
       Szepesi. Eindringlich fordert die 92-Jährige, die das Vernichtungslager
       Auschwitz-Birkenau überlebte, gegen Menschenfeindlichkeit aufzustehen. „Wer
       schweigt, macht sich mitschuldig“, sagte sie in der Gedenkstunde im
       Bundestag für die Opfer des Nationalsozialismus.
       
       Es ist ein besonders Gedenken im Bundestag, anlässlich der Befreiung des
       Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee vor 79 Jahren. Zwei
       Zeitzeugen werden sprechen: Eva Szepesi und der Sportjournalist Marcel
       Reif, dessen Vater den Holocaust überlebte und der in zweiter Generation
       die Last der Vergangenheit spüren musste. Hat doch Antisemitismus, seit dem
       brutalen Angriff der Terrormiliz Hamas auf Israel, und die Bedrohungslage
       durch Rechtsextreme in den vergangenen Monaten massiv zugenommen.
       
       Traditionell haben sich im Plenum neben den Abgeordneten und den Ministern
       auch die Spitzen des Staates versammelt. Die Bundesratspräsidentin Manuela
       Schwesig hatte Eva Szepesi zum Rednerpult geführt. In der vordersten Reihe
       vor den Abgeordnetenbänken sitzen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas,
       Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Schwesig und die stellvertretende
       Verfassungsgerichtspräsidentin Doris König.
       
       Nie sei es wichtiger gewesen, Zeugnis abzulegen, sagt Szepesi vor dem
       Parlament, denn „Nie wieder ist jetzt!“ Sie erzählt von ihrer Mutter, die
       sie – noch ein kleines Mädchen –, als die Nazis Ungarn einnahmen, mit ihrer
       Tante wegschickte, in der Hoffnung, dass sie dem Grauen entkommen könne.
       Ende 1944 wurde sie dennoch [1][nach Auschwitz-Birkenau deportiert], dort
       wo ihre Mutter und ihr Bruder Jahre zuvor vergast worden waren. Am 27.
       Januar 1945 wurde sie von den sowjetischen Truppen befreit. „Und ich
       lebte“, sagte sie an diesem Mittwoch.
       
       ## Die Angst ist zurück
       
       Als 1938 die „Rassengesetze“ der Nazis in Kraft traten, habe sich ihre
       Kindheit schlagartig verändert, „nur weil ich Jüdin bin“. Und erneut habe
       sich für die Lebensrealität von Jüd*innen seit dem 7. Oktober wieder
       alles verändert. Seitdem spielt die Frage der eigenen Sicherheit für die
       92-Jährige auch in Deutschland wieder eine größere Rolle. Dass Kinder heute
       wieder Angst hätten, zur Schule zu gehen, „nur weil sie Juden sind“,
       schmerze sie sehr.
       
       Es sei großartig, dass zurzeit so viele Menschen auf die Straße gegen
       Rechtsextremismus demonstrierten, betont Szepesi und erhält [2][von allen
       Fraktionen bis auf die AfD Applaus]. „Ihr habt keine Schuld für das, was
       passiert ist. Aber ihr habt die Verantwortung für das, was jetzt passiert“,
       mahnt Szepesi in ihrer Gedenkrede im Bundestag.
       
       Deutschland dürfe seine zweite Chance niemals verspielen, mahnt Reif, doch
       „die großen Proteste der Aufrechten“, ließen ihn hoffen. Der bekannte
       Sportjournalist erzählt, er sei in sorgenfreier Kindheit aufgewachsen,
       gehüllt „im warmen kuscheligen Schweigen“, da sein Vater Leon Reif, der den
       Holocaust überlebte, nie über das Erlebte sprach. „Er sagte nichts (…) Ich
       fragte nicht“.
       
       Sein Vater habe nicht gewollt, dass seine Kinder von den Schatten
       heimgesucht werden, die seine Jugend erfüllt hatten. „Wir sollten nicht in
       jedem Postboden, Bäcker, Straßenbahnfahrer einen möglichen Mörder unserer
       Großeltern vermuten“. Und aus der Angst, „Unsagbares zu hören“ und
       dessentwillen, was sein „so starker Vater erlebt“ hatte, habe Marcel Reif
       nicht nachgefragt. Dennoch habe Leon Reif ihm zu seinen Lebzeiten das
       Wichtigste mitgegeben. Immer wieder dieser eine Satz, den Reif nun auch zum
       Ende seiner Gedenkrede im Bundestag lassen wolle: „Sei ein Mensch“.
       
       Bundestagspräsidentin Bas verwies in ihrer Rede auf die mehr als 2.000
       antisemitischen Straftaten, die seit dem Angriff der Hamas in Deutschland
       begangen wurden, und auch an die 130 Geiseln in den Händen der Terrormiliz.
       Bas hoffe auf eine Perspektive für Nahost und dass die Angehörigen der
       Geiseln ihre Liebsten bald wieder bei sich hätten. Eva Szepesi formuliert
       es klarer: „Bringt sie nach Hause – jetzt“, ruft sie den Anwesenden zu.
       
       ## „Verantwortung verjährt nicht“
       
       Judenhass sei kein Problem der Vergangenheit. „Antisemitismus ist ein
       Problem der Gegenwart“, sagt Bärbel Bas. ‚Nie wieder‘ sei eine Aufgabe der
       ganzen Gesellschaft, zu der jede und jeder beitragen müsse. „Diese
       Verantwortung verjährt nicht“.
       
       Umso wichtiger sei gerade jetzt die Notwendigkeit von mehr politischer
       Bildung gegen Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit. Zum
       Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus erklärten die
       Beauftragten des Bundes für Minderheitenschutz und gegen Rassismus: „Wenn
       wir heute der Millionen Opfer des Nationalsozialismus gedenken, dann tun
       wir das in einer Zeit, in der Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder
       Angst um ihre Sicherheit haben müssen. Wir tun es in einer Zeit, in der
       sich unzählige Menschen durch rechtsextremistische Vertreibungspläne
       existenziell bedroht fühlen.“
       
       Kein Mensch dürfe in Deutschland um seine Sicherheit fürchten, und sie
       betonen, das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus sei eine
       Verpflichtung, täglich gegen jede Form von Ausgrenzung und Diskriminierung
       – „gegen Antisemitismus, Antiziganismus, jede Form von Rassismus,
       Ableismus, Queerfeindlichkeit“ – einzutreten. Die Reden von Eva Szepesi und
       Marcel Reif rühren so manche*n Bundestagsabgeordnete*n zu Tränen,
       und sie erhalten beide minutenlangen Applaus. Eine Stunde später geht es im
       Bundestag regulär weiter mit der Generaldebatte zum Haushalt, in der der
       Rechtsruck Thema bleibt.
       
       Seit 1996 wird der 27. Januar 1945, an dem die sowjetischen Truppen die
       Überlebenden des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz im besetzten Polen
       befreiten, in Deutschland als Holocaust-Gedenktag begangen. Nazis hatten
       dort mehr als eine Million Menschen ermordet, überwiegend Juden.
       
       Anlässlich dieses Datums erinnerte der Bundestag am Mittwoch an die vielen
       sehr unterschiedlichen Opfer des Nationalsozialismus: [3][an die über 6
       Millionen ermordeten Jüd*innen Europas, an die Sinti*zze und Rom*nja,
       queere Menschen, die Opfer der sogenannten Euthanasie und derer, die
       Widerstand geleistet haben]. Der von Nazi-Deutschland entfesselte Weltkrieg
       kostete weltweit mindestens 60 Millionen Menschen das Leben.
       
       31 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Adefunmi Olanigan
       
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