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       # taz.de -- Ausschuss zu Afghanistan im Bundestag: Berlin und die unterschätzten Taliban
       
       > Der Afghanistan-Untersuchungsausschuss deckt erhebliche Defizite im
       > deutschen Engagement auf. An der Loyalität von Ortskräften gibt es keine
       > Zweifel.
       
   IMG Bild: Desaströser Abzug der Nato aus Afghanistan, Aufnahme vom August 2021
       
       Berlin taz | Nach 62 Sitzungen mit Dutzenden Anhörungen vor allem deutscher
       und afghanischer Zeug*innen kristallisieren sich langsam aber sicher
       Antworten auf zentrale Fragen des Untersuchungsausschusses [1][im Bundestag
       zum deutschen Afghanistan-Einsatz heraus]. Dazu zählt: Warum Teile der
       Bundesregierung relativ gefasst auf den Vormarsch der Taliban im Sommer
       2021 reagierten, warum Berlin das deutsche Botschaftspersonal erst auf den
       letzten Drücker aus Kabul evakuieren ließ und das Ausfliegen Tausender
       afghanischer Ortkräfte verschleppte. Ein Teil der Gefährdeten wartet
       allerdings bis heute.
       
       In der Sitzung vom vergangenen Donnerstag hörten die elf Mitglieder unter
       dem Vorsitz von Ralf Stegner (SPD) dazu den letzten afghanischen
       Außenminister vor den Taliban, Hanif Atmar, an und die frühere
       Vizeministerin für Flüchtlingsfragen, die Deutsch-Afghanin Alema. Als
       Dritter sagte der damalige Sicherheitsberater der Deutschen Botschaft, ein
       Bundespolizist mit dem Decknamen „Fisch“, aus.
       
       Anfang Juli 2021 überrannten die Taliban nach 20-jährigem Guerrillakrieg
       die erste afghanische Provinzhauptstadt. Schon Wochen später wurde „der
       Ring um Kabul immer enger“, schilderte „Fisch“ die Situation. Warum sollte
       das Verhalten der Taliban „in Kabul anders sein als in den Provinzen“, habe
       er sich gefragt. Er habe „nicht den Eindruck“ gehabt, dass Berlin die
       „dramatische Lageeinschätzung“ teilte.
       
       ## Fehleinschätzung der Bundesregierung?
       
       Dahinter verbarg sich offensichtlich eine politische Entscheidung. Die
       Botschaft sollte überhaupt nicht evakuiert werden, sondern einsatzfähig
       bleiben. Vor allem der deutsche Afghanistan-Sonderbeauftragte Markus Potzel
       sei der Überzeugung gewesen, dass es eine „bleifreie Transition“, also eine
       Machtübernahme der Taliban geben würde und von ihnen keine Gefahr drohe. Zu
       dieser Auffassung war er durch seine Gespräche mit den Aufständischen in
       Katar gekommen. Dort bemühten sich Deutschland und die Gastgeber parallel
       zwischen den Truppenabzugsgesprächen zwischen den USA und den Taliban um
       Direktverhandlungen.
       
       Zudem sei der BND noch einen Tag vor dem Fall Kabuls davon ausgegangen,
       dass man noch mindestens vier Wochen Zeit hätte. „Fisch“ sei noch am Tag
       vor dem Fall Kabuls angewiesen worden, die Botschaft nicht zum noch von
       US-Truppen gesicherten Flughafen zu verlegen, wie es andere Nationen schon
       getan hatten.
       
       Als die Situation eskalierte und die USA ihren Abzug vorzogen, evakuierten
       er und der amtierende Leiter der Botschaft, Jan Hendrik van Thiel, deren
       Personal eigenständig. Vom Krisenstab im Auswärtigen Amt habe er keine
       Anweisungen erhalten, weil dort „am Wochenende vielleicht niemand
       arbeitete.“ Den Ortskräften der Botschaft erlaubte man am Freitag – dem
       afghanischen „Sonntag“ – vor dem Fall Kabuls, nicht zur Arbeit zu kommen.
       Nach ihrem weiteren Schicksal fragten die Ausschussmitglieder leider nicht.
       
       Schon durch vorherige Anhörungen im Ausschuss zog sich wie ein roter Faden
       eine Aussage van Thiels vor der parallelen Enquete-Kommission des
       Bundestags zum Afghanistan-Einsatz: An der Botschaft „versuchten wir, den
       krisenfreien Normalbetrieb zu simulieren“. Warum die Bundesregierung in
       Afghanistan Normalität simulieren wollte, ging aus Alemas Schilderung
       hervor. Die Bundesregierung habe über mehrere Jahre Druck auf Kabul
       ausgeübt, abgelehnte Asylbewerber aufzunehmen. Sie habe vergeblich dagegen
       argumentiert, dass Berlin in Afghanistan immer noch „sichere Gebiete“
       erkennen wollte.
       
       Der damalige Innenminister Horst Seehofer (CSU) wollte noch wenige Tage vor
       Kabuls Fall dorthin einen Abschiebeflug nach Kabul durchsetzen. In einer
       früheren Anhörung war herausgekommen, er habe bei seinem österreichischen
       Amtskollegen für eine gemeinsame Abschiebung „im Wort gestanden“, weil Wien
       zwei afghanische „Schwerkriminelle“ loswerden wollte. Für einen solchen
       Flug, so ein Ausschussmitglied, gab es aber „keine Rechtsgrundlage“.
       
       ## Keine Zweifel an Loyalität der Ortskräfte
       
       Wie wichtig war die Frage der Abschiebungen für die Bundesregierung? Laut
       Atmar sei sie „auf der höchsten Ebene“ vorgetragen worden, also gegenüber
       dem damaligen Präsidenten Aschraf Ghani. Kanzlerin Angela Merkel (CDU)
       hatte das Thema Abschiebungen Ghani gegenüber auch während dessen
       Berlin-Besuchs im Dezember 2015 angesprochen. „Wir alle glaubten, dass das
       ein Signal war und sehr wichtig für Deutschland“. Alema sprach von einer
       „Erpressbarkeit“ Afghanistans, da es von der Militärhilfe der USA und auch
       „der finanziellen Hilfe Deutschlands“ abhängig gewesen sei.
       
       Schon bei der Anhörung am 18. Januar hatte ein Botschaftsangehöriger
       eingeräumt, dass Berlins offizielles Argument, [2][eine Evakuierung einer
       größeren Zahl von Ortskräften] würde „ein falsches Signal“ senden und die
       afghanische Regierung schwächen, „wenig begründet“ gewesen sei. Als
       Washington und London ihre Ortskräfte mit Charterflügen außer Landes
       brachten, habe es keine „Verurteilung“ durch Kabul gegeben.
       
       Der AfD-Vertreter im Ausschuss, der 2011 in Afghanistan eingesetzte
       Bundeswehrgeneral Joachim Wundrak, holte sich eine Abfuhr von „Fisch“. Als
       er insinuierte, dass sich gefährliche Islamisten unter die [3][zu
       evakuierenden Ortskräfte] mischen könnten, antwortete der Bundespolizist:
       [4][„Ich zweifle die Loyalität unserer Ortskräfte auf keinste Weise an.“]
       
       Ex-Außenminister Atmar lobte das deutsche Engagement in Afghanistan.
       Deutschland habe „mit der Position der afghanischen Regierung
       sympathisiert“. Seiner Ansicht nach habe man in Berlin wohl aber „zu großes
       Vertrauen darin gehabt, dass die Taliban Frieden wollten“. Dieser
       entscheidende Satz ging dabei fast unter: Berlin habe „alle richtigen
       Absichten gehabt, aber sehr wenig Einfluss“. Mit dem damaligen
       Außenminister Heiko Maas (SPD) habe er nur „ein paar Mal“ gesprochen,
       „nicht so regelmäßig, wie ich es mir vielleicht gewünscht hätte“. Alema
       zufolge hatte der Gesamteinsatz, also auch Deutschlands Beitrag, in
       Afghanistan „Warlord-Strukturen in den Streitkräften und im Staat
       gefestigt“.
       
       2 Feb 2024
       
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   DIR Thomas Ruttig
       
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